Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.Sie hatt' es vor der Mutter gewohnt, die Sonderbar erschien sie in der nächsten Mi¬ Ach in dieser Minute wurd' er wieder über¬ Sie hatt' es vor der Mutter gewohnt, die Sonderbar erſchien ſie in der nächſten Mi¬ Ach in dieſer Minute wurd' er wieder über¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0066" n="58"/> Sie hatt' es vor der Mutter gewohnt, die<lb/> Thräne eh' ſie wuchs, ſo zu ſagen mit dem<lb/> Auge abzutrocknen.</p><lb/> <p>Sonderbar erſchien ſie in der nächſten Mi¬<lb/> nute dem Grafen. Die Mutter ſprach mit dem<lb/> Sohn. Liane ſtand, fern von jenem, mit halb¬<lb/> verwandtem, vom Monde ein wenig entfärb¬<lb/> tem Geſicht neben einer weiſſen Statue der<lb/> heil. Jungfrau und blickte in die Nacht. Auf<lb/> einmal ſchauete und lächelte ſie an, gleich¬<lb/> ſam als erſchien' ihr ein lebendiges Weſen im<lb/> Aether-Abgrund und die Lippe wollte reden.<lb/> Erhabner und rührender war ihm noch keine<lb/> Erdengeſtalt begegnet; das Geländer, in das<lb/> er griff, gieng hin und her (aber er ſelber<lb/> regte es) und ſeine ganze Seele rief: heute,<lb/> jetzt lieb' ich die Himmliſche am höchſten, am<lb/> innigſten. So ſagt' er neulich auch, und ſo<lb/> wird er öfter ſagen; kann der Menſch mit den un¬<lb/> zähligen Wogen der Liebe Höhenmeſſungen an¬<lb/> ſtellen und auf diejenige zeigen, die am mei¬<lb/> ſten ſtieg?— So glaubt der Menſch ſtets, wo er<lb/> auch ſtehe, in der Mitte des Himmels zu ſtehen.</p><lb/> <p>Ach in dieſer Minute wurd' er wieder über¬<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0066]
Sie hatt' es vor der Mutter gewohnt, die
Thräne eh' ſie wuchs, ſo zu ſagen mit dem
Auge abzutrocknen.
Sonderbar erſchien ſie in der nächſten Mi¬
nute dem Grafen. Die Mutter ſprach mit dem
Sohn. Liane ſtand, fern von jenem, mit halb¬
verwandtem, vom Monde ein wenig entfärb¬
tem Geſicht neben einer weiſſen Statue der
heil. Jungfrau und blickte in die Nacht. Auf
einmal ſchauete und lächelte ſie an, gleich¬
ſam als erſchien' ihr ein lebendiges Weſen im
Aether-Abgrund und die Lippe wollte reden.
Erhabner und rührender war ihm noch keine
Erdengeſtalt begegnet; das Geländer, in das
er griff, gieng hin und her (aber er ſelber
regte es) und ſeine ganze Seele rief: heute,
jetzt lieb' ich die Himmliſche am höchſten, am
innigſten. So ſagt' er neulich auch, und ſo
wird er öfter ſagen; kann der Menſch mit den un¬
zähligen Wogen der Liebe Höhenmeſſungen an¬
ſtellen und auf diejenige zeigen, die am mei¬
ſten ſtieg?— So glaubt der Menſch ſtets, wo er
auch ſtehe, in der Mitte des Himmels zu ſtehen.
Ach in dieſer Minute wurd' er wieder über¬
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