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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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schönere, seltnere Abblüthe als des cereus ser¬
pens
erinnerte -- und o! diese kalte Einsamkeit,
da ihr Herz heute zum erstenmale ohne ein
Herz lebte; denn ihr Bruder, der Chorist ihres
kurzen Freudengesanges war verschickt und Ju¬
lienne seit einiger Zeit ihr unbegreiflich unsicht¬
bar -- nein, sie konnte die schöne Sonne, die
so hell und weiß mit ihrem hohen Abendsterne
sich tiefer wiegte, nicht niedergehen sehen -- oder
das frohe Abendchor des langen Tages anhö¬
ren, sondern verließ die glänzende Höhe. O,
die fremde Freude stirbt im unbewohnten dun¬
keln Busen, wo sie keine Schwester antrifft und
wird zum Gespenst darin! So deutet das schö¬
ne Grün, diese Frühlingsfarbe, so bald es eine
Wolke mahlt, nichts an als lange Nässe.

Da sie bald in die Freistatt des Tags, das
Schlafzimmer trat, wetterleuchtete draussen der
Himmel; o, warum jetzt, hartes Geschick? --
Aber hier, vor dem Stillleben der Nacht, wenn
das Leben von ihrem Flor bezogen leiser tönt,
-- hier dürfen alle ihre Thränen fließen, die
ein schwerer Tag gekeltert hat. -- Auf dem
Kopfkissen, als trüg' es den längsten Schlaf,

ſchönere, ſeltnere Abblüthe als des cereus ser¬
pens
erinnerte — und o! dieſe kalte Einſamkeit,
da ihr Herz heute zum erſtenmale ohne ein
Herz lebte; denn ihr Bruder, der Choriſt ihres
kurzen Freudengeſanges war verſchickt und Ju¬
lienne ſeit einiger Zeit ihr unbegreiflich unſicht¬
bar — nein, ſie konnte die ſchöne Sonne, die
ſo hell und weiß mit ihrem hohen Abendſterne
ſich tiefer wiegte, nicht niedergehen ſehen — oder
das frohe Abendchor des langen Tages anhö¬
ren, ſondern verließ die glänzende Höhe. O,
die fremde Freude ſtirbt im unbewohnten dun¬
keln Buſen, wo ſie keine Schweſter antrifft und
wird zum Geſpenſt darin! So deutet das ſchö¬
ne Grün, dieſe Frühlingsfarbe, ſo bald es eine
Wolke mahlt, nichts an als lange Näſſe.

Da ſie bald in die Freiſtatt des Tags, das
Schlafzimmer trat, wetterleuchtete drauſſen der
Himmel; o, warum jetzt, hartes Geſchick? —
Aber hier, vor dem Stillleben der Nacht, wenn
das Leben von ihrem Flor bezogen leiſer tönt,
— hier dürfen alle ihre Thränen fließen, die
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[132/0144] ſchönere, ſeltnere Abblüthe als des cereus ser¬ pens erinnerte — und o! dieſe kalte Einſamkeit, da ihr Herz heute zum erſtenmale ohne ein Herz lebte; denn ihr Bruder, der Choriſt ihres kurzen Freudengeſanges war verſchickt und Ju¬ lienne ſeit einiger Zeit ihr unbegreiflich unſicht¬ bar — nein, ſie konnte die ſchöne Sonne, die ſo hell und weiß mit ihrem hohen Abendſterne ſich tiefer wiegte, nicht niedergehen ſehen — oder das frohe Abendchor des langen Tages anhö¬ ren, ſondern verließ die glänzende Höhe. O, die fremde Freude ſtirbt im unbewohnten dun¬ keln Buſen, wo ſie keine Schweſter antrifft und wird zum Geſpenſt darin! So deutet das ſchö¬ ne Grün, dieſe Frühlingsfarbe, ſo bald es eine Wolke mahlt, nichts an als lange Näſſe. Da ſie bald in die Freiſtatt des Tags, das Schlafzimmer trat, wetterleuchtete drauſſen der Himmel; o, warum jetzt, hartes Geſchick? — Aber hier, vor dem Stillleben der Nacht, wenn das Leben von ihrem Flor bezogen leiſer tönt, — hier dürfen alle ihre Thränen fließen, die ein ſchwerer Tag gekeltert hat. — Auf dem Kopfkiſſen, als trüg' es den längſten Schlaf,

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/144>, abgerufen am 24.11.2024.