der alten Tage die geleuchtet hatten wieder in die Wohnung des Greises zurück, der sie mit größerer Ehrerbietung entließ als er sie aufge¬ nommen. Auf dem Nachtweg war sie stumm und in sich gesenkt gegen ihr Mädchen. Die Eltern erwarteten sie noch, die Mutter blickte bang' in die Nacht und in die Zukunft. End¬ lich rollte der lebendige Wagen in den Hof. Groß und mächtig wie eine unschuldig Hinge¬ richtete wieder vor dem Zergliederer auflebt und, ihn für den höhern Richter achtend, entfesselt und freudig spricht, so trat sie vor die Eltern; wie der kalte Marmor einer Göttergestalt, stand sie bleich, thränenlos, kalt und ruhig da. Sie wußte und wollt' es nicht, aber sie gieng hoch über das Leben, sogar über die kindliche Liebe -- sie konnte die Mutter nicht so inbrünstig küssen wie sonst -- sie stellte sich unerschrocken vor den polternden Vater und sagte dann oh¬ ne Thräne, ohne Bewegung, ohne Röthe und mit sanfter Stimme: "Ich habe heute vor Gott "meiner Liebe entsagt. Der fromme Vater hat "mich überzeugt." -- "Und hatte der Mann bessere Gründe dazu in petto als ich?" sagte
der alten Tage die geleuchtet hatten wieder in die Wohnung des Greiſes zurück, der ſie mit größerer Ehrerbietung entließ als er ſie aufge¬ nommen. Auf dem Nachtweg war ſie ſtumm und in ſich geſenkt gegen ihr Mädchen. Die Eltern erwarteten ſie noch, die Mutter blickte bang' in die Nacht und in die Zukunft. End¬ lich rollte der lebendige Wagen in den Hof. Groß und mächtig wie eine unſchuldig Hinge¬ richtete wieder vor dem Zergliederer auflebt und, ihn für den höhern Richter achtend, entfeſſelt und freudig ſpricht, ſo trat ſie vor die Eltern; wie der kalte Marmor einer Göttergeſtalt, ſtand ſie bleich, thränenlos, kalt und ruhig da. Sie wußte und wollt' es nicht, aber ſie gieng hoch über das Leben, ſogar über die kindliche Liebe — ſie konnte die Mutter nicht ſo inbrünſtig küſſen wie ſonſt — ſie ſtellte ſich unerſchrocken vor den polternden Vater und ſagte dann oh¬ ne Thräne, ohne Bewegung, ohne Röthe und mit ſanfter Stimme: „Ich habe heute vor Gott „meiner Liebe entſagt. Der fromme Vater hat „mich überzeugt.“ — „Und hatte der Mann beſſere Gründe dazu in petto als ich?“ ſagte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0213"n="201"/>
der alten Tage die geleuchtet hatten wieder in<lb/>
die Wohnung des Greiſes zurück, der ſie mit<lb/>
größerer Ehrerbietung entließ als er ſie aufge¬<lb/>
nommen. Auf dem Nachtweg war ſie ſtumm<lb/>
und in ſich geſenkt gegen ihr Mädchen. Die<lb/>
Eltern erwarteten ſie noch, die Mutter blickte<lb/>
bang' in die Nacht und in die Zukunft. End¬<lb/>
lich rollte der lebendige Wagen in den Hof.<lb/>
Groß und mächtig wie eine unſchuldig Hinge¬<lb/>
richtete wieder vor dem Zergliederer auflebt und,<lb/>
ihn für den höhern Richter achtend, entfeſſelt<lb/>
und freudig ſpricht, ſo trat ſie vor die Eltern;<lb/>
wie der kalte Marmor einer Göttergeſtalt, ſtand<lb/>ſie bleich, thränenlos, kalt und ruhig da. Sie<lb/>
wußte und wollt' es nicht, aber ſie gieng hoch<lb/>
über das Leben, ſogar über die kindliche Liebe<lb/>—ſie konnte die Mutter nicht ſo inbrünſtig<lb/>
küſſen wie ſonſt —ſie ſtellte ſich unerſchrocken<lb/>
vor den polternden Vater und ſagte dann oh¬<lb/>
ne Thräne, ohne Bewegung, ohne Röthe und<lb/>
mit ſanfter Stimme: „Ich habe heute vor Gott<lb/>„meiner Liebe entſagt. Der fromme Vater hat<lb/>„mich überzeugt.“—„Und hatte der Mann<lb/>
beſſere Gründe dazu <hirendition="#aq">in petto</hi> als ich?“ſagte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[201/0213]
der alten Tage die geleuchtet hatten wieder in
die Wohnung des Greiſes zurück, der ſie mit
größerer Ehrerbietung entließ als er ſie aufge¬
nommen. Auf dem Nachtweg war ſie ſtumm
und in ſich geſenkt gegen ihr Mädchen. Die
Eltern erwarteten ſie noch, die Mutter blickte
bang' in die Nacht und in die Zukunft. End¬
lich rollte der lebendige Wagen in den Hof.
Groß und mächtig wie eine unſchuldig Hinge¬
richtete wieder vor dem Zergliederer auflebt und,
ihn für den höhern Richter achtend, entfeſſelt
und freudig ſpricht, ſo trat ſie vor die Eltern;
wie der kalte Marmor einer Göttergeſtalt, ſtand
ſie bleich, thränenlos, kalt und ruhig da. Sie
wußte und wollt' es nicht, aber ſie gieng hoch
über das Leben, ſogar über die kindliche Liebe
— ſie konnte die Mutter nicht ſo inbrünſtig
küſſen wie ſonſt — ſie ſtellte ſich unerſchrocken
vor den polternden Vater und ſagte dann oh¬
ne Thräne, ohne Bewegung, ohne Röthe und
mit ſanfter Stimme: „Ich habe heute vor Gott
„meiner Liebe entſagt. Der fromme Vater hat
„mich überzeugt.“ — „Und hatte der Mann
beſſere Gründe dazu in petto als ich?“ ſagte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/213>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.