-- Sie schüttelte. "Gieb mir ein Zeichen dei¬ ner Wahrhaftigkeit!" -- Sie zeigte ihm einen halben goldnen Ring auf einem nahen Tisch. "Zeige dein Gesicht, damit ich Dir glaube!" -- Sie zog ihn vom Fenster weg. "Schwester, bei Gott, wenn Du nicht lügst, so hebe die Schlei¬ er!" -- Sie wieß mit dem ausgestreckten langen um¬ wickelten Arme nach etwas hinter ihm. Er bat immer fort, sie deutete heftig nach einem Orte hin und drückte ihn von sich; endlich folgte er und kehrte sich seitwärts -- Da sah er in ei¬ nem Spiegel, wie sie schnell die Schleier aufriß und wie darunter die veraltete Gestalt erschien, deren Bild ihm sein Vater auf Isola bella mit der Unterschrift gegeben. Aber als er sich um¬ kehrte, fühlt' er auf seinem Gesicht eine warme Hand und eine kalte Blume; und sein Ich zog wieder ein Schlaf hinunter.
Als er erwachte, war er allein, aber mit seiner Waffe und an der Waldstelle, wo er zum erstenmale eingeschlafen war. Der Himmel war blau, und die lichten Bilder schimmerten -- die Erde war grün und der Schnee verwischt -- den halben Ring hatt' er nicht mehr in der
— Sie ſchüttelte. „Gieb mir ein Zeichen dei¬ ner Wahrhaftigkeit!“ — Sie zeigte ihm einen halben goldnen Ring auf einem nahen Tiſch. „Zeige dein Geſicht, damit ich Dir glaube!“ — Sie zog ihn vom Fenſter weg. „Schweſter, bei Gott, wenn Du nicht lügſt, ſo hebe die Schlei¬ er!“ — Sie wieß mit dem ausgeſtreckten langen um¬ wickelten Arme nach etwas hinter ihm. Er bat immer fort, ſie deutete heftig nach einem Orte hin und drückte ihn von ſich; endlich folgte er und kehrte ſich ſeitwärts — Da ſah er in ei¬ nem Spiegel, wie ſie ſchnell die Schleier aufriß und wie darunter die veraltete Geſtalt erſchien, deren Bild ihm ſein Vater auf Isola bella mit der Unterſchrift gegeben. Aber als er ſich um¬ kehrte, fühlt' er auf ſeinem Geſicht eine warme Hand und eine kalte Blume; und ſein Ich zog wieder ein Schlaf hinunter.
Als er erwachte, war er allein, aber mit ſeiner Waffe und an der Waldſtelle, wo er zum erſtenmale eingeſchlafen war. Der Himmel war blau, und die lichten Bilder ſchimmerten — die Erde war grün und der Schnee verwiſcht — den halben Ring hatt' er nicht mehr in der
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— Sie ſchüttelte. „Gieb mir ein Zeichen dei¬
ner Wahrhaftigkeit!“ — Sie zeigte ihm einen
halben goldnen Ring auf einem nahen Tiſch.
„Zeige dein Geſicht, damit ich Dir glaube!“ —
Sie zog ihn vom Fenſter weg. „Schweſter, bei
Gott, wenn Du nicht lügſt, ſo hebe die Schlei¬
er!“ — Sie wieß mit dem ausgeſtreckten langen um¬
wickelten Arme nach etwas hinter ihm. Er bat
immer fort, ſie deutete heftig nach einem Orte
hin und drückte ihn von ſich; endlich folgte er
und kehrte ſich ſeitwärts — Da ſah er in ei¬
nem Spiegel, wie ſie ſchnell die Schleier aufriß
und wie darunter die veraltete Geſtalt erſchien,
deren Bild ihm ſein Vater auf Isola bella mit
der Unterſchrift gegeben. Aber als er ſich um¬
kehrte, fühlt' er auf ſeinem Geſicht eine warme
Hand und eine kalte Blume; und ſein Ich zog
wieder ein Schlaf hinunter.
Als er erwachte, war er allein, aber mit
ſeiner Waffe und an der Waldſtelle, wo er zum
erſtenmale eingeſchlafen war. Der Himmel war
blau, und die lichten Bilder ſchimmerten — die
Erde war grün und der Schnee verwiſcht —
den halben Ring hatt' er nicht mehr in der
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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/374>, abgerufen am 25.11.2024.
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