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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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Sie hatte schon längst die lange Unsichtbarkeit
Rabettens untersucht. Denn diese arme Seele
war seit ihrem Falle, seit dem Begräbniß ihrer
Unschuld, durch keine Bitten und Befehle zu
zwingen gewesen, vor die Freundin der ewigen
Unschuld mit dem niedergeworfnen Sünder-
Auge zu treten; und jetzt war es ihr vollends
unmöglich, seit ihr durch Linda's Ankunft und
Besuche auch das kleinste schillernde Gewebe ih¬
res fliegenden Sommers zertreten war und ihr
Mund voll Quaal dumpf am hereingezognen
Leichenschleier erstickte. "Bruder, Bruder, (sagte
"Liane begeistert,) bedenke, was unsere armen
"Eltern von uns Kindern haben! Ich erfülle
"ihnen keine Hoffnung; auf Dir ruht jede;" "ach
"wie wird unser Vater zürnen!" setzte sie mit
alter Scheu und Liebe dazu. Der Bruder hielt
es für Recht, die Wahrheit (über Rabettens
Hinab "und Wegstoßen), welche diesesmal die Ge¬
stalt einer bewaffneten Parze haben würde, von
ihr zu entfernen, und setzte an die Stelle der
Wahrheit seine Bruder-Liebe. Daher hatt' er
bisher die einzige Gelegenheit, mit der Grä¬
fin zu sprechen, entbehrt -- Lianens Kranken

Sie hatte ſchon längſt die lange Unſichtbarkeit
Rabettens unterſucht. Denn dieſe arme Seele
war ſeit ihrem Falle, ſeit dem Begräbniß ihrer
Unſchuld, durch keine Bitten und Befehle zu
zwingen geweſen, vor die Freundin der ewigen
Unſchuld mit dem niedergeworfnen Sünder-
Auge zu treten; und jetzt war es ihr vollends
unmöglich, ſeit ihr durch Linda's Ankunft und
Beſuche auch das kleinſte ſchillernde Gewebe ih¬
res fliegenden Sommers zertreten war und ihr
Mund voll Quaal dumpf am hereingezognen
Leichenſchleier erſtickte. „Bruder, Bruder, (ſagte
„Liane begeiſtert,) bedenke, was unſere armen
„Eltern von uns Kindern haben! Ich erfülle
„ihnen keine Hoffnung; auf Dir ruht jede;“ „ach
„wie wird unſer Vater zürnen!“ ſetzte ſie mit
alter Scheu und Liebe dazu. Der Bruder hielt
es für Recht, die Wahrheit (über Rabettens
Hinab „und Wegſtoßen), welche dieſesmal die Ge¬
ſtalt einer bewaffneten Parze haben würde, von
ihr zu entfernen, und ſetzte an die Stelle der
Wahrheit ſeine Bruder-Liebe. Daher hatt' er
bisher die einzige Gelegenheit, mit der Grä¬
fin zu ſprechen, entbehrt — Lianens Kranken

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[373/0385] Sie hatte ſchon längſt die lange Unſichtbarkeit Rabettens unterſucht. Denn dieſe arme Seele war ſeit ihrem Falle, ſeit dem Begräbniß ihrer Unſchuld, durch keine Bitten und Befehle zu zwingen geweſen, vor die Freundin der ewigen Unſchuld mit dem niedergeworfnen Sünder- Auge zu treten; und jetzt war es ihr vollends unmöglich, ſeit ihr durch Linda's Ankunft und Beſuche auch das kleinſte ſchillernde Gewebe ih¬ res fliegenden Sommers zertreten war und ihr Mund voll Quaal dumpf am hereingezognen Leichenſchleier erſtickte. „Bruder, Bruder, (ſagte „Liane begeiſtert,) bedenke, was unſere armen „Eltern von uns Kindern haben! Ich erfülle „ihnen keine Hoffnung; auf Dir ruht jede;“ „ach „wie wird unſer Vater zürnen!“ ſetzte ſie mit alter Scheu und Liebe dazu. Der Bruder hielt es für Recht, die Wahrheit (über Rabettens Hinab „und Wegſtoßen), welche dieſesmal die Ge¬ ſtalt einer bewaffneten Parze haben würde, von ihr zu entfernen, und ſetzte an die Stelle der Wahrheit ſeine Bruder-Liebe. Daher hatt' er bisher die einzige Gelegenheit, mit der Grä¬ fin zu ſprechen, entbehrt — Lianens Kranken

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/385>, abgerufen am 24.11.2024.