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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803.

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was verschob noch den Aufbruch, Schoppens
Ausbleiben, den er mit seinen Räthseln erwar¬
ten mußte und, wo möglich, mit entführen
wollte. Er hielt sich den ganzen Tag in Wäl¬
dern auf, um seinem Vater und Juliennen
und jedem zu entgehen. Linda's unglückliche
Nacht wurde tief in seine Brust hinabgesenkt,
und nur er allein sah hinunter, kein Fremder.
Er wünschte, daß sie selber gegen Julienne
schweige, weil diese nach ihren frommen weibli¬
chen Ordensregeln hiegegen keine Nachsicht kann¬
te. In seiner Seele hatte jetzt die erste eifersüchtige
Aufbrausung einem schmerzlichen Mitleiden mit
der betrognen Linda, deren heiliger Tempel
ausgeraubt da stand, Platz gemacht. Was
ihn unleidlich schmerzte, war das Gefühl der
Demüthigung, mit welchem die schöne Stolze
nun, wie er glaubte, an ihn denken mußte,
und das er bei seiner jetzigen bittern Verach¬
tung Roquairol's desto stärker annahm. "Nie,
nie, wenn sie auch meine Schwester würde,
dürfen wir uns mehr erblicken; ich kann sie
wohl blutend vor mir sehen, aber nicht ge¬
beugt," sagt' er sich. Zuweilen überfiel ihn

was verſchob noch den Aufbruch, Schoppens
Ausbleiben, den er mit ſeinen Räthſeln erwar¬
ten mußte und, wo möglich, mit entführen
wollte. Er hielt ſich den ganzen Tag in Wäl¬
dern auf, um ſeinem Vater und Juliennen
und jedem zu entgehen. Linda's unglückliche
Nacht wurde tief in ſeine Bruſt hinabgeſenkt,
und nur er allein ſah hinunter, kein Fremder.
Er wünſchte, daß ſie ſelber gegen Julienne
ſchweige, weil dieſe nach ihren frommen weibli¬
chen Ordensregeln hiegegen keine Nachſicht kann¬
te. In ſeiner Seele hatte jetzt die erſte eiferſüchtige
Aufbrauſung einem ſchmerzlichen Mitleiden mit
der betrognen Linda, deren heiliger Tempel
ausgeraubt da ſtand, Platz gemacht. Was
ihn unleidlich ſchmerzte, war das Gefühl der
Demüthigung, mit welchem die ſchöne Stolze
nun, wie er glaubte, an ihn denken mußte,
und das er bei ſeiner jetzigen bittern Verach¬
tung Roquairol's deſto ſtärker annahm. „Nie,
nie, wenn ſie auch meine Schweſter würde,
dürfen wir uns mehr erblicken; ich kann ſie
wohl blutend vor mir ſehen, aber nicht ge¬
beugt,“ ſagt' er ſich. Zuweilen überfiel ihn

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[424/0436] was verſchob noch den Aufbruch, Schoppens Ausbleiben, den er mit ſeinen Räthſeln erwar¬ ten mußte und, wo möglich, mit entführen wollte. Er hielt ſich den ganzen Tag in Wäl¬ dern auf, um ſeinem Vater und Juliennen und jedem zu entgehen. Linda's unglückliche Nacht wurde tief in ſeine Bruſt hinabgeſenkt, und nur er allein ſah hinunter, kein Fremder. Er wünſchte, daß ſie ſelber gegen Julienne ſchweige, weil dieſe nach ihren frommen weibli¬ chen Ordensregeln hiegegen keine Nachſicht kann¬ te. In ſeiner Seele hatte jetzt die erſte eiferſüchtige Aufbrauſung einem ſchmerzlichen Mitleiden mit der betrognen Linda, deren heiliger Tempel ausgeraubt da ſtand, Platz gemacht. Was ihn unleidlich ſchmerzte, war das Gefühl der Demüthigung, mit welchem die ſchöne Stolze nun, wie er glaubte, an ihn denken mußte, und das er bei ſeiner jetzigen bittern Verach¬ tung Roquairol's deſto ſtärker annahm. „Nie, nie, wenn ſie auch meine Schweſter würde, dürfen wir uns mehr erblicken; ich kann ſie wohl blutend vor mir ſehen, aber nicht ge¬ beugt,“ ſagt' er ſich. Zuweilen überfiel ihn

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/436>, abgerufen am 22.11.2024.