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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Beringsvölker.
dass sie den ältern und neuern Seefahrern auf dem Schauplatz
der nordwestlichen Durchfahrt ihre Dienste liehen. Einer merk-
würdigen Eskimofrau, Iligliuk, verdankte Sir Edward William Parry
eine Landkarte, die ihm den Weg zeigte zur Entdeckung der
Fury- und Heclastrasse 1). Der Eskimo Hans, der den unvergess-
lichen Kane und seinen Nachfolger Hayes begleitete, führte den
Matrosen Morton bis über den 81. Breitengrad zu dem nördlichsten
Punkte der je an der Küste Grönlands erreicht wurde. Wenn wir
den Berichten der älteren und neueren Seefahrer auf dem Gebiet
der nordwestlichen Durchfahrt folgen, und wir sehen ihre Schiffe
vor uns in der Gefangenschaft des winterlichen Eises, es senkt
sich dann auf sie die arktische Nacht herab, die drei oder vier Monate
dauern soll, so beschleicht uns jedesmal die Bangigkeit, dass selbst
der Europäer mit aller seiner Herrschaft über Stoff und Kraft
doch jener strengen Natur nicht gewachsen sei und sein Leben
und seine Freiheit abhänge von der Laune der künftigen Jahres-
zeit. Wenn dann am Bord der Ruf ertönt: die Eskimo sind an-
gekommen! so ist es uns als würden von befreundeter Hand die
Thüren des arktischen Kerkers geöffnet. Wie die Helfer im
Dunkeln erscheinen Wesen unseres Geschlechtes, denen weder die
Kälte noch die Nacht ihre Lebensheiterkeit rauben, und die ver-
gnügt noch wandern und umherziehen, wo die Natur mit allen
Schaudern eines Dante'schen Höllenringes 2) gepanzert erscheint.

Von ihren nautischen Geschicklichkeiten brauchen wir nicht
lange zu reden. Sie besitzen bekanntlich zwei Arten von Fahr-
zeugen: grosse und geräumige, die sogenannten Frauenboote
(Umiak), worin die Familien ihre Wanderungen antreten, und die
Männerboote (Kayaken), mit denen der einzelne Jäger die See-
thiere aufsucht. Was den Bau und die Führung von Booten be-
trifft, so giebt es keine grösseren Kenner als die Briten und die
Amerikaner der Vereinigten Staaten. Beide aber reden mit Be-
wunderung, mit Neid sogar von dem Eskimo, der mit seinem
Doppelruder und den Gleichgewichtskünsten eines Seiltänzers seine
Kayake über die rauhen Wogenkämme hüpfen lässt.

1) Capt. Lyon, Private Journal. p. 160. p. 226. Hall hat zwei Eskimo-
karten abbilden lassen, die kaum von Europäern naturgetreuer hätten gezeich-
net werden können.
2) Inferno, XXXII, v. 22--30.

Die Beringsvölker.
dass sie den ältern und neuern Seefahrern auf dem Schauplatz
der nordwestlichen Durchfahrt ihre Dienste liehen. Einer merk-
würdigen Eskimofrau, Iligliuk, verdankte Sir Edward William Parry
eine Landkarte, die ihm den Weg zeigte zur Entdeckung der
Fury- und Heclastrasse 1). Der Eskimo Hans, der den unvergess-
lichen Kane und seinen Nachfolger Hayes begleitete, führte den
Matrosen Morton bis über den 81. Breitengrad zu dem nördlichsten
Punkte der je an der Küste Grönlands erreicht wurde. Wenn wir
den Berichten der älteren und neueren Seefahrer auf dem Gebiet
der nordwestlichen Durchfahrt folgen, und wir sehen ihre Schiffe
vor uns in der Gefangenschaft des winterlichen Eises, es senkt
sich dann auf sie die arktische Nacht herab, die drei oder vier Monate
dauern soll, so beschleicht uns jedesmal die Bangigkeit, dass selbst
der Europäer mit aller seiner Herrschaft über Stoff und Kraft
doch jener strengen Natur nicht gewachsen sei und sein Leben
und seine Freiheit abhänge von der Laune der künftigen Jahres-
zeit. Wenn dann am Bord der Ruf ertönt: die Eskimo sind an-
gekommen! so ist es uns als würden von befreundeter Hand die
Thüren des arktischen Kerkers geöffnet. Wie die Helfer im
Dunkeln erscheinen Wesen unseres Geschlechtes, denen weder die
Kälte noch die Nacht ihre Lebensheiterkeit rauben, und die ver-
gnügt noch wandern und umherziehen, wo die Natur mit allen
Schaudern eines Dante’schen Höllenringes 2) gepanzert erscheint.

Von ihren nautischen Geschicklichkeiten brauchen wir nicht
lange zu reden. Sie besitzen bekanntlich zwei Arten von Fahr-
zeugen: grosse und geräumige, die sogenannten Frauenboote
(Umiak), worin die Familien ihre Wanderungen antreten, und die
Männerboote (Kayaken), mit denen der einzelne Jäger die See-
thiere aufsucht. Was den Bau und die Führung von Booten be-
trifft, so giebt es keine grösseren Kenner als die Briten und die
Amerikaner der Vereinigten Staaten. Beide aber reden mit Be-
wunderung, mit Neid sogar von dem Eskimo, der mit seinem
Doppelruder und den Gleichgewichtskünsten eines Seiltänzers seine
Kayake über die rauhen Wogenkämme hüpfen lässt.

1) Capt. Lyon, Private Journal. p. 160. p. 226. Hall hat zwei Eskimo-
karten abbilden lassen, die kaum von Europäern naturgetreuer hätten gezeich-
net werden können.
2) Inferno, XXXII, v. 22—30.
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[422/0440] Die Beringsvölker. dass sie den ältern und neuern Seefahrern auf dem Schauplatz der nordwestlichen Durchfahrt ihre Dienste liehen. Einer merk- würdigen Eskimofrau, Iligliuk, verdankte Sir Edward William Parry eine Landkarte, die ihm den Weg zeigte zur Entdeckung der Fury- und Heclastrasse 1). Der Eskimo Hans, der den unvergess- lichen Kane und seinen Nachfolger Hayes begleitete, führte den Matrosen Morton bis über den 81. Breitengrad zu dem nördlichsten Punkte der je an der Küste Grönlands erreicht wurde. Wenn wir den Berichten der älteren und neueren Seefahrer auf dem Gebiet der nordwestlichen Durchfahrt folgen, und wir sehen ihre Schiffe vor uns in der Gefangenschaft des winterlichen Eises, es senkt sich dann auf sie die arktische Nacht herab, die drei oder vier Monate dauern soll, so beschleicht uns jedesmal die Bangigkeit, dass selbst der Europäer mit aller seiner Herrschaft über Stoff und Kraft doch jener strengen Natur nicht gewachsen sei und sein Leben und seine Freiheit abhänge von der Laune der künftigen Jahres- zeit. Wenn dann am Bord der Ruf ertönt: die Eskimo sind an- gekommen! so ist es uns als würden von befreundeter Hand die Thüren des arktischen Kerkers geöffnet. Wie die Helfer im Dunkeln erscheinen Wesen unseres Geschlechtes, denen weder die Kälte noch die Nacht ihre Lebensheiterkeit rauben, und die ver- gnügt noch wandern und umherziehen, wo die Natur mit allen Schaudern eines Dante’schen Höllenringes 2) gepanzert erscheint. Von ihren nautischen Geschicklichkeiten brauchen wir nicht lange zu reden. Sie besitzen bekanntlich zwei Arten von Fahr- zeugen: grosse und geräumige, die sogenannten Frauenboote (Umiak), worin die Familien ihre Wanderungen antreten, und die Männerboote (Kayaken), mit denen der einzelne Jäger die See- thiere aufsucht. Was den Bau und die Führung von Booten be- trifft, so giebt es keine grösseren Kenner als die Briten und die Amerikaner der Vereinigten Staaten. Beide aber reden mit Be- wunderung, mit Neid sogar von dem Eskimo, der mit seinem Doppelruder und den Gleichgewichtskünsten eines Seiltänzers seine Kayake über die rauhen Wogenkämme hüpfen lässt. 1) Capt. Lyon, Private Journal. p. 160. p. 226. Hall hat zwei Eskimo- karten abbilden lassen, die kaum von Europäern naturgetreuer hätten gezeich- net werden können. 2) Inferno, XXXII, v. 22—30.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/440>, abgerufen am 23.12.2024.