Er gieng sodann zum Felix Kriecher. Das war ein Kerl, der immer umher gieng, wie die Gedult selbst, wenn sie im tiefsten Leiden schmachtet. Vor dem Scheerer, dem Vogt und dem Müller, und vor einem jeden Fremden bückte er sich so tief als vor dem Pfarrer! und diesem gieng er in alle Wo- chenpredigten und in alle Singstunden am Sonntag Abends. Dafür erhielt er aber auch, dann und wann, ein Glas Wein, und durfte er zuweilen, wenn er recht späth kam, und nahe genug zustuhnde, auch zum Nachtessen bleiben. Mit den Pietisten im Dorf aber kam er nicht zurecht, ob ers gleich sorgfältig versuchte; denn er wollte um ihrentwillen es mit den andern auch nicht verderben. Und das geht bey den Pietisten nicht an; Sie leidens nicht an ihren Schülern, daß sie auf beyden Achseln tragen; und so ward er, trotz allem Anschein von De- muth, trotz aller ausgelernten Heuchlerkunst, und trotz seines geistlichen Hochmuths, welches sonst alles bey den Pietisten gar wohl empfiehlt, ausge- schlossen.
Neben
§. 23. Ein Heuchler, und eine leidende Frau.
Er gieng ſodann zum Felix Kriecher. Das war ein Kerl, der immer umher gieng, wie die Gedult ſelbſt, wenn ſie im tiefſten Leiden ſchmachtet. Vor dem Scheerer, dem Vogt und dem Muͤller, und vor einem jeden Fremden buͤckte er ſich ſo tief als vor dem Pfarrer! und dieſem gieng er in alle Wo- chenpredigten und in alle Singſtunden am Sonntag Abends. Dafuͤr erhielt er aber auch, dann und wann, ein Glas Wein, und durfte er zuweilen, wenn er recht ſpaͤth kam, und nahe genug zuſtuhnde, auch zum Nachteſſen bleiben. Mit den Pietiſten im Dorf aber kam er nicht zurecht, ob ers gleich ſorgfaͤltig verſuchte; denn er wollte um ihrentwillen es mit den andern auch nicht verderben. Und das geht bey den Pietiſten nicht an; Sie leidens nicht an ihren Schuͤlern, daß ſie auf beyden Achſeln tragen; und ſo ward er, trotz allem Anſchein von De- muth, trotz aller ausgelernten Heuchlerkunſt, und trotz ſeines geiſtlichen Hochmuths, welches ſonſt alles bey den Pietiſten gar wohl empfiehlt, ausge- ſchloſſen.
Neben
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§. 23.
Ein Heuchler, und eine leidende Frau.
Er gieng ſodann zum Felix Kriecher. Das war
ein Kerl, der immer umher gieng, wie die Gedult
ſelbſt, wenn ſie im tiefſten Leiden ſchmachtet. Vor
dem Scheerer, dem Vogt und dem Muͤller, und
vor einem jeden Fremden buͤckte er ſich ſo tief als
vor dem Pfarrer! und dieſem gieng er in alle Wo-
chenpredigten und in alle Singſtunden am Sonntag
Abends. Dafuͤr erhielt er aber auch, dann und
wann, ein Glas Wein, und durfte er zuweilen, wenn
er recht ſpaͤth kam, und nahe genug zuſtuhnde, auch
zum Nachteſſen bleiben. Mit den Pietiſten im Dorf
aber kam er nicht zurecht, ob ers gleich ſorgfaͤltig
verſuchte; denn er wollte um ihrentwillen es mit
den andern auch nicht verderben. Und das geht bey
den Pietiſten nicht an; Sie leidens nicht an ihren
Schuͤlern, daß ſie auf beyden Achſeln tragen;
und ſo ward er, trotz allem Anſchein von De-
muth, trotz aller ausgelernten Heuchlerkunſt, und
trotz ſeines geiſtlichen Hochmuths, welches ſonſt
alles bey den Pietiſten gar wohl empfiehlt, ausge-
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. [Bd. 1]. Berlin u. a., 1781, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard01_1781/150>, abgerufen am 24.11.2024.
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