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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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60 Jahr alt, und habe ihr Lebtag schinden
und schaben müssen, wie eine Bettelfrau, und
ihr Mann mißgönne ihr das Brod, und gebe
ihr nicht, wie recht ist, zu essen, sonst wäre
sie, das wisse Gott im Himmel nicht in diesem
Unglük. --

Es machte den Junker blaß; er fragte links
und rechts ob dem so seye? und links und
rechts war die Antwort, es seye nicht anderst,
und es habe der Frau ihrer Lebtag kein Mensch
nachgeredt, daß sie ein Glas Wein zu viel ge-
trunken. Der alte Reinold sezte hinzu, sie
habe zwanzig Kinder gehabt die aber alle bis
auf zwey tod seyen, und die Frau möge die
rohen Speisen, die sie um seines Geizes wil-
len essen sollte, nicht mehr erleiden, und sonst
sey ganz gewiß unter der Sonnen kein Grund,
daß sie ins geheim dann und wann ein Glas
Wein aus dem Wirthshaus kommen lassen. --

Als der Junker dieses gehört, sagte er,
wenns so ist Frau, so will ich dir helfen. Wenn
dir dein Mann nicht zukommen laßt, was
du zu deiner Leibsnothdurft brauchest, sey es
jezt Wein oder was es wolle, so sag du nur
dem Pfarrer, in welchem Haus im Dorf du
den Rest deiner Tage gern verleben möchtest?
und ich will dann schon dafür sorgen, daß
dein Mann dir was du nöthig hast, sicher in
dieses Haus bringen wird.


60 Jahr alt, und habe ihr Lebtag ſchinden
und ſchaben muͤſſen, wie eine Bettelfrau, und
ihr Mann mißgoͤnne ihr das Brod, und gebe
ihr nicht, wie recht iſt, zu eſſen, ſonſt waͤre
ſie, das wiſſe Gott im Himmel nicht in dieſem
Ungluͤk. —

Es machte den Junker blaß; er fragte links
und rechts ob dem ſo ſeye? und links und
rechts war die Antwort, es ſeye nicht anderſt,
und es habe der Frau ihrer Lebtag kein Menſch
nachgeredt, daß ſie ein Glas Wein zu viel ge-
trunken. Der alte Reinold ſezte hinzu, ſie
habe zwanzig Kinder gehabt die aber alle bis
auf zwey tod ſeyen, und die Frau moͤge die
rohen Speiſen, die ſie um ſeines Geizes wil-
len eſſen ſollte, nicht mehr erleiden, und ſonſt
ſey ganz gewiß unter der Sonnen kein Grund,
daß ſie ins geheim dann und wann ein Glas
Wein aus dem Wirthshaus kommen laſſen. —

Als der Junker dieſes gehoͤrt, ſagte er,
wenns ſo iſt Frau, ſo will ich dir helfen. Wenn
dir dein Mann nicht zukommen laßt, was
du zu deiner Leibsnothdurft braucheſt, ſey es
jezt Wein oder was es wolle, ſo ſag du nur
dem Pfarrer, in welchem Haus im Dorf du
den Reſt deiner Tage gern verleben moͤchteſt?
und ich will dann ſchon dafuͤr ſorgen, daß
dein Mann dir was du noͤthig haſt, ſicher in
dieſes Haus bringen wird.


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[173/0195] 60 Jahr alt, und habe ihr Lebtag ſchinden und ſchaben muͤſſen, wie eine Bettelfrau, und ihr Mann mißgoͤnne ihr das Brod, und gebe ihr nicht, wie recht iſt, zu eſſen, ſonſt waͤre ſie, das wiſſe Gott im Himmel nicht in dieſem Ungluͤk. — Es machte den Junker blaß; er fragte links und rechts ob dem ſo ſeye? und links und rechts war die Antwort, es ſeye nicht anderſt, und es habe der Frau ihrer Lebtag kein Menſch nachgeredt, daß ſie ein Glas Wein zu viel ge- trunken. Der alte Reinold ſezte hinzu, ſie habe zwanzig Kinder gehabt die aber alle bis auf zwey tod ſeyen, und die Frau moͤge die rohen Speiſen, die ſie um ſeines Geizes wil- len eſſen ſollte, nicht mehr erleiden, und ſonſt ſey ganz gewiß unter der Sonnen kein Grund, daß ſie ins geheim dann und wann ein Glas Wein aus dem Wirthshaus kommen laſſen. — Als der Junker dieſes gehoͤrt, ſagte er, wenns ſo iſt Frau, ſo will ich dir helfen. Wenn dir dein Mann nicht zukommen laßt, was du zu deiner Leibsnothdurft braucheſt, ſey es jezt Wein oder was es wolle, ſo ſag du nur dem Pfarrer, in welchem Haus im Dorf du den Reſt deiner Tage gern verleben moͤchteſt? und ich will dann ſchon dafuͤr ſorgen, daß dein Mann dir was du noͤthig haſt, ſicher in dieſes Haus bringen wird.

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/195>, abgerufen am 29.11.2024.