Die Freude über diesen Brief verlohr sich ob dem andern. Dieser war von seinem Onkle, dem Ge- neral von Arnburg, der mit Sylvia, seiner Niece, einen Besuch für etliche Wochen ankündigte.
Ob ihm erschracken sie nicht. Er war ein guter Mann, der den Morgen mit seiner Schok- kolade und Toilette durchbrachte, ohne jemand zu plagen, und zufrieden war, wenn man ihn denn nur nach dem Mittagsschlaf bis zum Nachtessen vergesellschaftete. -- Aber ob der Sylvia erschra- cken sie herzlich. Es wäre das gleiche gewesen, wo er sie immer mitgenommen hätte -- denn außer ihm würde gewiß kein Mensch, der sie kennt, nicht erschrecken etliche Wochen mit ihr unter einem Dache zu wohnen, und er selber gewiß auch; aber sie war seines Bruders Tochter, und aus Mitlei- den hatte er sich ihrer beladen.
In der Jugend, von einem verschwenderischen Vater wie eine Prinzeßin verderbt, hatte sie in vollem Maaß die Fehler der Menschen, die nicht wissen, wo das Brod herkommt; und durch seinen Tod plötzlich in Armuth und Abhänglichkeit versezt, hasset sie
§. 2. Folget Regen.
Die Freude uͤber dieſen Brief verlohr ſich ob dem andern. Dieſer war von ſeinem Onkle, dem Ge- neral von Arnburg, der mit Sylvia, ſeiner Niece, einen Beſuch fuͤr etliche Wochen ankuͤndigte.
Ob ihm erſchracken ſie nicht. Er war ein guter Mann, der den Morgen mit ſeiner Schok- kolade und Toilette durchbrachte, ohne jemand zu plagen, und zufrieden war, wenn man ihn denn nur nach dem Mittagsſchlaf bis zum Nachteſſen vergeſellſchaftete. — Aber ob der Sylvia erſchra- cken ſie herzlich. Es waͤre das gleiche geweſen, wo er ſie immer mitgenommen haͤtte — denn außer ihm wuͤrde gewiß kein Menſch, der ſie kennt, nicht erſchrecken etliche Wochen mit ihr unter einem Dache zu wohnen, und er ſelber gewiß auch; aber ſie war ſeines Bruders Tochter, und aus Mitlei- den hatte er ſich ihrer beladen.
In der Jugend, von einem verſchwenderiſchen Vater wie eine Prinzeßin verderbt, hatte ſie in vollem Maaß die Fehler der Menſchen, die nicht wiſſen, wo das Brod herkommt; und durch ſeinen Tod ploͤtzlich in Armuth und Abhaͤnglichkeit verſezt, haſſet ſie
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§. 2.
Folget Regen.
Die Freude uͤber dieſen Brief verlohr ſich ob dem
andern. Dieſer war von ſeinem Onkle, dem Ge-
neral von Arnburg, der mit Sylvia, ſeiner Niece,
einen Beſuch fuͤr etliche Wochen ankuͤndigte.
Ob ihm erſchracken ſie nicht. Er war ein
guter Mann, der den Morgen mit ſeiner Schok-
kolade und Toilette durchbrachte, ohne jemand zu
plagen, und zufrieden war, wenn man ihn denn
nur nach dem Mittagsſchlaf bis zum Nachteſſen
vergeſellſchaftete. — Aber ob der Sylvia erſchra-
cken ſie herzlich. Es waͤre das gleiche geweſen,
wo er ſie immer mitgenommen haͤtte — denn außer
ihm wuͤrde gewiß kein Menſch, der ſie kennt, nicht
erſchrecken etliche Wochen mit ihr unter einem
Dache zu wohnen, und er ſelber gewiß auch; aber
ſie war ſeines Bruders Tochter, und aus Mitlei-
den hatte er ſich ihrer beladen.
In der Jugend, von einem verſchwenderiſchen
Vater wie eine Prinzeßin verderbt, hatte ſie in vollem
Maaß die Fehler der Menſchen, die nicht wiſſen, wo
das Brod herkommt; und durch ſeinen Tod ploͤtzlich
in Armuth und Abhaͤnglichkeit verſezt, haſſet ſie
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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/22>, abgerufen am 21.11.2024.
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