Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

-- Solltest du keiner Wahrheit Zeugniß geben, die
verdreht werden kann, wenn du nicht mehr da bist?
-- Kannst du nicht mehr thun als du thust, vor
deinem Ende sicher zu werden, daß keines der Dei-
nigen dem andern Unrecht thun könne? -- Siehest
du mit Ruhe über das Grab? Und werden deine
Enkel Gott loben, wenn sie deinen Namen hören
und von dir sagen, er war wahrlich unser Vater
-- sie war wahrlich unsere Mutter? --

Dann antwortete einer der Alten --

Diener Gottes! unsere Stärke ist dahin, und
unsere Kraft ist vergangen, wir sind worden wie
die Blätter eines Baums, die den Winter über am
leeren Ast hangen geblieben. -- Sey der Stab
unsers Alters, Diener Gottes! führe uns an deiner
Hand zu allem was wir noch thun können, damit
keiner unserer wenigen Tagen mehr verloren gehe
-- es sind ihrer genug verloren. --

Dann las er ihnen mit kurzen Worten das
Bild alter Leute vor, die in ihrer Schwäche noch
der Segen der Nachwelt, und bis ans Grab die
Freude der Ihrigen sind. --

Aber das Bild der Fehlern und Schwächen
des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde
nicht vor. Er wußte daß der Mensch in der spä-
ten Neige seiner Tage nicht mehr zu ändern ist,

— Sollteſt du keiner Wahrheit Zeugniß geben, die
verdreht werden kann, wenn du nicht mehr da biſt?
— Kannſt du nicht mehr thun als du thuſt, vor
deinem Ende ſicher zu werden, daß keines der Dei-
nigen dem andern Unrecht thun koͤnne? — Sieheſt
du mit Ruhe uͤber das Grab? Und werden deine
Enkel Gott loben, wenn ſie deinen Namen hoͤren
und von dir ſagen, er war wahrlich unſer Vater
— ſie war wahrlich unſere Mutter? —

Dann antwortete einer der Alten —

Diener Gottes! unſere Staͤrke iſt dahin, und
unſere Kraft iſt vergangen, wir ſind worden wie
die Blaͤtter eines Baums, die den Winter uͤber am
leeren Aſt hangen geblieben. — Sey der Stab
unſers Alters, Diener Gottes! fuͤhre uns an deiner
Hand zu allem was wir noch thun koͤnnen, damit
keiner unſerer wenigen Tagen mehr verloren gehe
— es ſind ihrer genug verloren. —

Dann las er ihnen mit kurzen Worten das
Bild alter Leute vor, die in ihrer Schwaͤche noch
der Segen der Nachwelt, und bis ans Grab die
Freude der Ihrigen ſind. —

Aber das Bild der Fehlern und Schwaͤchen
des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde
nicht vor. Er wußte daß der Menſch in der ſpaͤ-
ten Neige ſeiner Tage nicht mehr zu aͤndern iſt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0374" n="356"/>
&#x2014; Sollte&#x017F;t du keiner Wahrheit Zeugniß geben, die<lb/>
verdreht werden kann, wenn du nicht mehr da bi&#x017F;t?<lb/>
&#x2014; Kann&#x017F;t du nicht mehr thun als du thu&#x017F;t, vor<lb/>
deinem Ende &#x017F;icher zu werden, daß keines der Dei-<lb/>
nigen dem andern Unrecht thun ko&#x0364;nne? &#x2014; Siehe&#x017F;t<lb/>
du mit Ruhe u&#x0364;ber das Grab? Und werden deine<lb/>
Enkel Gott loben, wenn &#x017F;ie deinen Namen ho&#x0364;ren<lb/>
und von dir &#x017F;agen, er war wahrlich un&#x017F;er Vater<lb/>
&#x2014; &#x017F;ie war wahrlich un&#x017F;ere Mutter? &#x2014;</p><lb/>
        <p>Dann antwortete einer der Alten &#x2014;</p><lb/>
        <p>Diener Gottes! un&#x017F;ere Sta&#x0364;rke i&#x017F;t dahin, und<lb/>
un&#x017F;ere Kraft i&#x017F;t vergangen, wir &#x017F;ind worden wie<lb/>
die Bla&#x0364;tter eines Baums, die den Winter u&#x0364;ber am<lb/>
leeren A&#x017F;t hangen geblieben. &#x2014; Sey der Stab<lb/>
un&#x017F;ers Alters, Diener Gottes! fu&#x0364;hre uns an deiner<lb/>
Hand zu allem was wir noch thun ko&#x0364;nnen, damit<lb/>
keiner un&#x017F;erer wenigen Tagen mehr verloren gehe<lb/>
&#x2014; es &#x017F;ind ihrer genug verloren. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Dann las er ihnen mit kurzen Worten das<lb/>
Bild alter Leute vor, die in ihrer Schwa&#x0364;che noch<lb/>
der Segen der Nachwelt, und bis ans Grab die<lb/>
Freude der Ihrigen &#x017F;ind. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Aber das Bild der Fehlern und Schwa&#x0364;chen<lb/>
des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde<lb/>
nicht vor. Er wußte daß der Men&#x017F;ch in der &#x017F;pa&#x0364;-<lb/>
ten Neige &#x017F;einer Tage nicht mehr zu a&#x0364;ndern i&#x017F;t,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0374] — Sollteſt du keiner Wahrheit Zeugniß geben, die verdreht werden kann, wenn du nicht mehr da biſt? — Kannſt du nicht mehr thun als du thuſt, vor deinem Ende ſicher zu werden, daß keines der Dei- nigen dem andern Unrecht thun koͤnne? — Sieheſt du mit Ruhe uͤber das Grab? Und werden deine Enkel Gott loben, wenn ſie deinen Namen hoͤren und von dir ſagen, er war wahrlich unſer Vater — ſie war wahrlich unſere Mutter? — Dann antwortete einer der Alten — Diener Gottes! unſere Staͤrke iſt dahin, und unſere Kraft iſt vergangen, wir ſind worden wie die Blaͤtter eines Baums, die den Winter uͤber am leeren Aſt hangen geblieben. — Sey der Stab unſers Alters, Diener Gottes! fuͤhre uns an deiner Hand zu allem was wir noch thun koͤnnen, damit keiner unſerer wenigen Tagen mehr verloren gehe — es ſind ihrer genug verloren. — Dann las er ihnen mit kurzen Worten das Bild alter Leute vor, die in ihrer Schwaͤche noch der Segen der Nachwelt, und bis ans Grab die Freude der Ihrigen ſind. — Aber das Bild der Fehlern und Schwaͤchen des grauen Alters las er ihnen vor der Gemeinde nicht vor. Er wußte daß der Menſch in der ſpaͤ- ten Neige ſeiner Tage nicht mehr zu aͤndern iſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/374
Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/374>, abgerufen am 21.11.2024.