ppe_115.001 Schwester Cornelia. Man kann sagen, ohne diese beiden erlebnismäßigen ppe_115.002 Berührungspunkte hätte Goethe keinen "Clavigo" geschrieben, ppe_115.003 auch wenn ihn das Gesellschaftsspiel zur schnellen Fertigung ppe_115.004 eines Dramas verpflichtete.
ppe_115.005 Das umgekehrte Beispiel des Zusammentreffens mehrerer, auf verschiedenen ppe_115.006 Ebenen gelagerter Stoffe mit einem Grunderlebnis gibt ppe_115.007 uns ein lebender Dichter, Friedrich Bethge, in der Vorrede seines ppe_115.008 Schauspiels "Marsch der Veteranen". Von den stofflichen Quellen, ppe_115.009 deren Zusammenfließen der Dichter beobachtete, war das eine der ppe_115.010 Zeitungsbericht vom Hungermarsch nach Washington, den ehemalige ppe_115.011 amerikanische Kriegsteilnehmer im Frühjahr 1932 unternahmen; das ppe_115.012 andere war eine Episode im Roman "Tote Seelen" von Gogol, nämlich ppe_115.013 die Erzählung von dem Hauptmann Kopejkin, der im Kriege gegen ppe_115.014 Napoleon Arm und Bein verlor und in Petersburg, wo er vom Väterchen ppe_115.015 Zar Hilfe hoffte, Woche für Woche mit den Worten "Komm ppe_115.016 wieder!" vertröstet wird. Von den beiden Quellen, dem zeitgeschichtlichen ppe_115.017 Rohstoff und dem bereits literarisch geformten Geschichtsbild, ppe_115.018 kann man das eine als Erlebnisstoff, das andere als Stofferlebnis bezeichnen. ppe_115.019 Der Verfasser erzählt, wie mit der zufälligen Gogol-Lektüre ppe_115.020 im Augenblick, wo die Dramatisierung des so ähnlich gelagerten ppe_115.021 Stoffes der amerikanischen Veteranen geplant war, die Entscheidung ppe_115.022 fiel, das Thema um des zeitlichen und künstlerischen Abstandes willen ppe_115.023 ins napoleonische Rußland zu verlegen. Während für die Zeichnung ppe_115.024 der Petersburger Gesellschaft um 1812/13 Tolstois "Krieg und Frieden" ppe_115.025 als Quelle dienen konnte, wurde aus dem amerikanischen Generalstabschef ppe_115.026 ein ehemaliger preußischer Offizier der Armee Friedrichs ppe_115.027 des Großen, der dem korrupten russischen Staat das preußische ppe_115.028 Maß entgegenzuhalten hat. In dieser Gestalt und ihrer Tendenz hat ppe_115.029 nun das eigene Kriegserlebnis des Verfassers auf Bildung der Fabel ppe_115.030 Einfluß gewonnen. Ohne die zu einer Weltanschauung verfestigte ppe_115.031 Erlebnisgrundlage, die in der eigenen Kriegserfahrung des mehrmals ppe_115.032 verwundeten Frontkämpfers und in der bitteren Erfahrung des geringen ppe_115.033 Dankes der Heimat beruhte, hätten die beiden parallelen Stoffe ppe_115.034 nicht wie ein Stück eigenen Schicksals gestaltet werden können. Derselbe ppe_115.035 Dichter gibt in der Vorrede seines früheren Kriegsdramas ppe_115.036 "Reims" eine Selbstanalyse, die das Zusammentreffen eines aus Zeitungsnachrichten ppe_115.037 geschöpften Stoffes mit dem eigenen Fronterlebnis ppe_115.038 darstellt und die Übertragung der Fabel vom italienischen auf den ppe_115.039 französischen Kriegsschauplatz und von der österreichischen auf die ppe_115.040 deutsche Armee begründet.
ppe_115.041 Wie aber soll analytisch aus solcher Verquickung das Erlebnis herauszulösen
ppe_115.001 Schwester Cornelia. Man kann sagen, ohne diese beiden erlebnismäßigen ppe_115.002 Berührungspunkte hätte Goethe keinen „Clavigo“ geschrieben, ppe_115.003 auch wenn ihn das Gesellschaftsspiel zur schnellen Fertigung ppe_115.004 eines Dramas verpflichtete.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/139>, abgerufen am 24.11.2024.
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