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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944.

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Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons ppe_166.002
inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der ppe_166.003
italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre ppe_166.004
ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist ppe_166.005
sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt. ppe_166.006
Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm ppe_166.007
Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern ppe_166.008
Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt, ppe_166.009
doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner ppe_166.010
Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals ppe_166.011
einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben ppe_166.012
rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als ppe_166.013
Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in ppe_166.014
Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung ppe_166.015
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Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare ppe_166.017
erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit ppe_166.018
des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei ppe_166.019
Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", lassen sich in der Tat ppe_166.020
alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und ppe_166.021
Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der ppe_166.022
Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis ppe_166.023
imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich ppe_166.024
in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter ppe_166.025
und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in ppe_166.026
der Judith des "Grünen Heinrich" und in der Züs Bünzlin der "Gerechten ppe_166.027
Kammacher" sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex ppe_166.028
lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang ppe_166.029
aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit ppe_166.030
dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie ppe_166.031
auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber ppe_166.032
für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie ppe_166.033
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Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen ppe_166.035
trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen ppe_166.036
durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die ppe_166.037
nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern ppe_166.038
und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer ppe_166.039
Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer ppe_166.040
Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht ppe_166.041
z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein

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Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare ppe_166.017
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Zitationshilfe: Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/190>, abgerufen am 21.11.2024.