ppe_166.001 Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons ppe_166.002 inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der ppe_166.003 italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre ppe_166.004 ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist ppe_166.005 sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt. ppe_166.006 Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm ppe_166.007 Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern ppe_166.008 Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt, ppe_166.009 doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner ppe_166.010 Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals ppe_166.011 einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben ppe_166.012 rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als ppe_166.013 Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in ppe_166.014 Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung ppe_166.015 zu betrachten.
ppe_166.016 Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare ppe_166.017 erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit ppe_166.018 des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei ppe_166.019 Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", lassen sich in der Tat ppe_166.020 alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und ppe_166.021 Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der ppe_166.022 Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis ppe_166.023 imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich ppe_166.024 in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter ppe_166.025 und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in ppe_166.026 der Judith des "Grünen Heinrich" und in der Züs Bünzlin der "Gerechten ppe_166.027 Kammacher" sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex ppe_166.028 lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang ppe_166.029 aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit ppe_166.030 dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie ppe_166.031 auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber ppe_166.032 für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie ppe_166.033 kein Raum übrig.
ppe_166.034 Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen ppe_166.035 trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen ppe_166.036 durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die ppe_166.037 nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern ppe_166.038 und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer ppe_166.039 Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer ppe_166.040 Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht ppe_166.041 z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein
ppe_166.001 Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons ppe_166.002 inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der ppe_166.003 italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre ppe_166.004 ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist ppe_166.005 sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt. ppe_166.006 Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm ppe_166.007 Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern ppe_166.008 Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt, ppe_166.009 doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner ppe_166.010 Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals ppe_166.011 einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben ppe_166.012 rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als ppe_166.013 Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in ppe_166.014 Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung ppe_166.015 zu betrachten.
ppe_166.016 Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare ppe_166.017 erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit ppe_166.018 des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei ppe_166.019 Flauberts „Versuchung des heiligen Antonius“, lassen sich in der Tat ppe_166.020 alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und ppe_166.021 Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der ppe_166.022 Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis ppe_166.023 imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich ppe_166.024 in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter ppe_166.025 und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in ppe_166.026 der Judith des „Grünen Heinrich“ und in der Züs Bünzlin der „Gerechten ppe_166.027 Kammacher“ sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex ppe_166.028 lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang ppe_166.029 aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit ppe_166.030 dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie ppe_166.031 auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber ppe_166.032 für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie ppe_166.033 kein Raum übrig.
ppe_166.034 Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen ppe_166.035 trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen ppe_166.036 durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die ppe_166.037 nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern ppe_166.038 und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer ppe_166.039 Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer ppe_166.040 Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht ppe_166.041 z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/190>, abgerufen am 21.11.2024.
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