ppe_175.001 Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches ppe_175.002 methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei ppe_175.003 der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben ppe_175.004 kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie ppe_175.005 des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn ppe_175.006 Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis ppe_175.007 erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei ppe_175.008 eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck, ppe_175.009 selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition ppe_175.010 einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte, ppe_175.011 beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer ppe_175.012 Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners "Kindermörderin" ppe_175.013 in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust- ppe_175.014 Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu ppe_175.015 Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen ppe_175.016 Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte ppe_175.017 sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison ppe_175.018 berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung ppe_175.019 der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt ppe_175.020 vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe ppe_175.021 des "Urfaust" mit Recht zwecks methodischer Warnung auf ppe_175.022 einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets "Rois en exile", ppe_175.023 die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten, ppe_175.024 das in der Erzählung von den "Guten Frauen" sich findet.
ppe_175.025 In der Lyrik vollends ist aus Gleichheit der Motive niemals auf ppe_175.026 Entlehnung zu schließen; fremde Einflüsse können in Sprache und ppe_175.027 Stil, in Wortwahl, Bildern, Rhythmen und metrischen Formen viel ppe_175.028 eher sichtbar werden als in den Motiven, die immer durch das eigene ppe_175.029 Erlebnis des Dichters hindurchgegangen sein müssen und mit Notwendigkeit ppe_175.030 aus ihm hervorgehen. Die Stofflosigkeit der Lyrik gibt ppe_175.031 der Situation und den Motiven eine erhöhte Bedeutung; ihrer stimmungsmäßigen ppe_175.032 Verknüpfung fällt die Herstellung des Zusammenhanges ppe_175.033 zu, der das ausmacht, was in den pragmatischen Dichtungsgattungen ppe_175.034 die geprägte Fabel bedeutet.
ppe_175.035 Da die reine Lyrik keinen von außen an den Dichter herangetragenen ppe_175.036 Stoff kennt, darf das, was als lyrisches Motiv bezeichnet werden ppe_175.037 kann, nicht Element des Stoffes sein, sondern Element des Erlebnisses. ppe_175.038 In R. M. Werners großem Buche, das alle Lyrik aus dem Erlebnis ppe_175.039 herleitet, fehlt gleichwohl der Begriff des Motivs. Dafür sind mit ppe_175.040 positivistischem Schematismus drei Tabellen der lyrischen Unterarten, ppe_175.041 die mißverständlich als Gattungen bezeichnet werden, ausgefüllt.
ppe_175.001 Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches ppe_175.002 methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei ppe_175.003 der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben ppe_175.004 kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie ppe_175.005 des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn ppe_175.006 Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis ppe_175.007 erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei ppe_175.008 eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck, ppe_175.009 selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition ppe_175.010 einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte, ppe_175.011 beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer ppe_175.012 Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners „Kindermörderin“ ppe_175.013 in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust- ppe_175.014 Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu ppe_175.015 Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen ppe_175.016 Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte ppe_175.017 sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison ppe_175.018 berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung ppe_175.019 der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt ppe_175.020 vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe ppe_175.021 des „Urfaust“ mit Recht zwecks methodischer Warnung auf ppe_175.022 einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets „Rois en exile“, ppe_175.023 die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten, ppe_175.024 das in der Erzählung von den „Guten Frauen“ sich findet.
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/199>, abgerufen am 21.11.2024.
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