ppe_409.001 Da die Erinnerung keine bloße Gedächtnis-Reproduktion, sondern ppe_409.002 eine unter Mitwirkung der Phantasie aus dem Weltbild wiedergeborene ppe_409.003 Vorstellung gibt, konnte der Philosoph Alois Riehl die Behauptung ppe_409.004 aufstellen, daß alle Dichtung nur als zeitliches Fernbild künstlerisch ppe_409.005 lebenskräftig werde. Sein Aufsatz war das Gegenstück zu Adolf Hildebrands ppe_409.006 "Problem der Form in der bildenden Kunst", das im räumlichen ppe_409.007 Fernbild die gesetzliche Erscheinungsform der Kunst sah. Bei ppe_409.008 Riehl heißt es in unverkennbarer Verallgemeinerung der eben zitierten ppe_409.009 Schillerschen Sätze: "In der unmittelbaren Empfindung der Leidenschaft ppe_409.010 löst sich kein Lied von der Seele des Dichters, Lust und ppe_409.011 Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Liede neues Leben empfangen ppe_409.012 können, ein Leben in der Erinnerung."
ppe_409.013 Äußerungen von Jean Paul, Novalis, Wordsworth und Annette ppe_409.014 v. Droste-Hülshoff stimmen überein, daß der Fieberpuls der Leidenschaft ppe_409.015 den lyrischen Pinsel nicht festhalten läßt, daß in Momenten ppe_409.016 innigster Vertrautheit mit der Natur am wenigsten von ihr gesagt ppe_409.017 werden kann, daß die Dichtung ihren Ursprung in einer Gemütsbewegung ppe_409.018 hat, die sich in ruhiger Zurückgezogenheit sammelt, während ppe_409.019 man in höchst poetischen Augenblicken ungeeignet zur Arbeit ppe_409.020 sei, weil der Genuß den regelrechten Gedanken nicht aufkommen läßt. ppe_409.021 Aus dieser Erfahrung heraus sagt Rilke, der Dichter müsse sich so ppe_409.022 viel wie möglich vom Erleben zurückziehen, und schrieb sogar, die ppe_409.023 großen Menschen hätten ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten ppe_409.024 Weg und hätten alles in ihre Kunst getragen, so daß ihr Leben verkümmert ppe_409.025 sei wie ein Organ, das sie nicht mehr brauchten.
ppe_409.026 Daß die Leidenschaft flieht und nur in der Erinnerung bleibt, daß ppe_409.027 nach einem anderen Worte Jean Pauls nicht das hochauffahrende ppe_409.028 Wogen, sondern die glatte Tiefe die Welt spiegelt und daß der rechte ppe_409.029 Genius sich von innen beruhigt, ist unbestreitbar. Aber daß sogar ppe_409.030 das Leid, das die Leidenschaft erregte, bereits vergangen sein muß, ppe_409.031 um zur Darstellung gelangen zu können, wird auf keiner Seite Bestätigung ppe_409.032 finden. Vielmehr braucht der Dichter das Leid, um sich von ppe_409.033 ihm zu befreien; er ruft es zurück, es verstärkt sich bei der Zurückgezogenheit ppe_409.034 von der Welt ins Metaphysische. Das in Vereinsamung ppe_409.035 gestaute Leid, das kein anderes Ventil findet, kann in dichterischem ppe_409.036 Ausdruck überwunden werden. Indem der Sinnenmensch sich zum ppe_409.037 Innenmenschen wandelt, kann er im Spiel seiner Phantasie Ersatz ppe_409.038 für die Wirklichkeit finden, unter der er zu leiden hatte.
ppe_409.039 Hugo v. Hofmannsthal zog in seinem Gespräch "Über Charaktere ppe_409.040 im Roman und im Drama" zwei Beispiele für die erlösende Wirkung ppe_409.041 des künstlerischen Schaffens heran: das eine ist das des Benvenuto
ppe_409.001 Da die Erinnerung keine bloße Gedächtnis-Reproduktion, sondern ppe_409.002 eine unter Mitwirkung der Phantasie aus dem Weltbild wiedergeborene ppe_409.003 Vorstellung gibt, konnte der Philosoph Alois Riehl die Behauptung ppe_409.004 aufstellen, daß alle Dichtung nur als zeitliches Fernbild künstlerisch ppe_409.005 lebenskräftig werde. Sein Aufsatz war das Gegenstück zu Adolf Hildebrands ppe_409.006 „Problem der Form in der bildenden Kunst“, das im räumlichen ppe_409.007 Fernbild die gesetzliche Erscheinungsform der Kunst sah. Bei ppe_409.008 Riehl heißt es in unverkennbarer Verallgemeinerung der eben zitierten ppe_409.009 Schillerschen Sätze: „In der unmittelbaren Empfindung der Leidenschaft ppe_409.010 löst sich kein Lied von der Seele des Dichters, Lust und ppe_409.011 Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Liede neues Leben empfangen ppe_409.012 können, ein Leben in der Erinnerung.“
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ppe_409.026 Daß die Leidenschaft flieht und nur in der Erinnerung bleibt, daß ppe_409.027 nach einem anderen Worte Jean Pauls nicht das hochauffahrende ppe_409.028 Wogen, sondern die glatte Tiefe die Welt spiegelt und daß der rechte ppe_409.029 Genius sich von innen beruhigt, ist unbestreitbar. Aber daß sogar ppe_409.030 das Leid, das die Leidenschaft erregte, bereits vergangen sein muß, ppe_409.031 um zur Darstellung gelangen zu können, wird auf keiner Seite Bestätigung ppe_409.032 finden. Vielmehr braucht der Dichter das Leid, um sich von ppe_409.033 ihm zu befreien; er ruft es zurück, es verstärkt sich bei der Zurückgezogenheit ppe_409.034 von der Welt ins Metaphysische. Das in Vereinsamung ppe_409.035 gestaute Leid, das kein anderes Ventil findet, kann in dichterischem ppe_409.036 Ausdruck überwunden werden. Indem der Sinnenmensch sich zum ppe_409.037 Innenmenschen wandelt, kann er im Spiel seiner Phantasie Ersatz ppe_409.038 für die Wirklichkeit finden, unter der er zu leiden hatte.
ppe_409.039 Hugo v. Hofmannsthal zog in seinem Gespräch „Über Charaktere ppe_409.040 im Roman und im Drama“ zwei Beispiele für die erlösende Wirkung ppe_409.041 des künstlerischen Schaffens heran: das eine ist das des Benvenuto
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Äußerungen von Jean Paul, Novalis, Wordsworth und Annette ppe_409.014
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/433>, abgerufen am 22.11.2024.
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