ppe_478.001 stilistischen, problemgeschichtlichen Begreifens, das am Ganzen nur ppe_478.002 Einzelnes, am Einzelnen nicht das Ganze erfassen kann, ist solche ppe_478.003 Symphonie in ihrem letzten Geheimnis als Einheit zu ergründen.
ppe_478.004 Nicht anders ist es mit Goethes "Faust", auf den gleichfalls alle ppe_478.005 drei Gattungsbegriffe angewandt worden sind, indem man diese Dichtung ppe_478.006 als "die deutsche Göttliche Komödie", als "l'epopee du siecle" ppe_478.007 (Taine) und als das Hohelied der Menschheit bezeichnet hat. Im ppe_478.008 Werden dieses einzigartigen Bekenntniswerkes konnte nicht nur die ppe_478.009 ganze Lebensgeschichte seines Dichters aufgerollt werden, was Eugen ppe_478.010 Kühnemann versucht hat, sondern es wurde danach durch Günther ppe_478.011 Müller die ganze Stoff- und Gedankenentwicklung, die vom Volksbuch ppe_478.012 zu Goethes Dichtung reicht, als eine "Geschichte der deutschen ppe_478.013 Seele" dargestellt. Und im Typus des "faustischen Menschen", in ppe_478.014 dem Oswald Spengler den Geist des Abendlandes charakterisierte, ppe_478.015 war sogar ein weltgeschichtlicher Kulturkreis umschrieben. Ein ppe_478.016 solches Werk trägt nicht allein den ganzen Dichter in sich, der ihm ppe_478.017 seine Seele verliehen hat, es repräsentiert in seinem Werden und ppe_478.018 vollendeten Sein zugleich die Gemeinschaft des ganzen Volkes, dessen ppe_478.019 Stimmführer der Dichter geworden ist, ebenso wie der Geist seines ppe_478.020 Zeitalters und der ganzen Menschheit in ihm wesend und wirkend zu ppe_478.021 finden ist. Was hätte dabei der Gattungscharakter zu bedeuten?
ppe_478.022 Wenn die Form gewaltiger Schöpfungen so inkommensurabel sein ppe_478.023 kann, begreift man den Widerspruch eines Philosophen wie Benedetto ppe_478.024 Croce gegen die Gültigkeit aller kunsttheoretischen Einteilungen. ppe_478.025 Gattungen sind keine Teilgebiete der Dichtung, aus deren Zusammenfassung ppe_478.026 sich ihr Ganzes restlos begreifen ließe. Eher als von ppe_478.027 den Gattungen könnte man sich von dem einzelnen großen Werk ppe_478.028 zum Begriff der Dichtung hinführen lassen. Und doch ist an einer ppe_478.029 einzigen Schöpfung, und sei es die allergrößte, das Wesen der Dichtkunst ppe_478.030 überhaupt nicht erläuternd zu veranschaulichen. Das wäre nur ppe_478.031 im Vergleich mit Nicht-Dichtung durchführbar, und damit käme man ppe_478.032 wieder zur Analyse, die mit dem Vergleich zwischen Stoff und Ausführung ppe_478.033 beginnt. Dabei würden nur Teilergebnisse für die Erscheinung ppe_478.034 des Dichterischen zum Vorschein kommen.
ppe_478.035 Die Erscheinungsformen der Dichtkunst und ihre Möglichkeiten ppe_478.036 sind zu reichhaltig und vielseitig, auch in ihren räumlichen und zeitlichen ppe_478.037 Bedingtheiten zu verschiedenartig und in ihren Bedeutungswerten ppe_478.038 zu ungleich, als daß auf induktivem Wege zu einem einheitlichen ppe_478.039 Begriff gelangt werden könnte, geschweige denn, daß eine allgemein ppe_478.040 gültige Formel aus irgendeinem einzelnen Werke abzuziehen ppe_478.041 wäre. Das ist so wenig möglich wie aus der Beobachtung eines einzigen
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/502>, abgerufen am 22.11.2024.
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