ppe_046.001 Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft mußten die gleiche ppe_046.002 Öffnung ihrer Grenzen erleben. Wohl unterschied sich die moderne ppe_046.003 geistesgeschichtliche Monographie in ihren Grundlagen von den ppe_046.004 Dichterromanen und von den als "historische Belletristik" oder ppe_046.005 "biographie romancee" gekennzeichneten Zwischenleistungen; aber ppe_046.006 was auch ihr allmählich verloren ging, war die objektive Gültigkeit. ppe_046.007 Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer ppe_046.008 extrem positivistischen Wissenschaftsauffassung aus, behauptet, hervorragende ppe_046.009 Einzelpersönlichkeiten seien nicht Gegenstand ernster ppe_046.010 Wissenschaft, sondern schöngeistiger Geschichtserzählung, die er ppe_046.011 "histoire litteraire" nannte. Wenn dreißig Jahre später Ernst Bertram ppe_046.012 die Ziele seines "Nietzsche" (1918) mit den Worten "Mythologie" ppe_046.013 und "Legende" charakterisierte, so lag darin wohl der skeptische ppe_046.014 Verzicht auf Erkennen, "wie es eigentlich gewesen sei", aber zugleich ppe_046.015 die Anerkennung geschichtsbildender Kräfte, denen der zeitgebundene ppe_046.016 Darsteller sich unterworfen fühlte. Aber wenn im dritten Jahrzehnt ppe_046.017 des Jahrhunderts der Gestalt Heinrichs von Kleist fast gleichzeitig ppe_046.018 vier Monographien gewidmet wurden, von denen jede ein anderes ppe_046.019 Leitmotiv erklingen ließ, so daß der eine (Witkop, 1922) den Metaphysiker ppe_046.020 zeichnete, der andere (Gundolf, 1922) den expressionistischen ppe_046.021 Hysteriker, der dritte (Muschg, 1923) den Erkenntnisproblematiker, ppe_046.022 der vierte (Braig, 1925) den Büßer auf dem katholischen Heilsweg, ppe_046.023 so bestanden die einander widersprechenden Ergebnisse solcher ppe_046.024 prophetischen Optik nicht mehr in Wissenschaft, sondern in Glaubenslehren. ppe_046.025 Es ist dann von Gerhard Fricke in seinem Buch "Gefühl und ppe_046.026 Schicksal bei Heinrich v. Kleist" (1933) der Versuch gemacht worden, ppe_046.027 dieser unmethodischen Willkür einen gesicherten Weg gegenüberzustellen, ppe_046.028 der von der strengen Interpretation des Dichters und seiner ppe_046.029 Selbstzeugnisse ausging und in der Erkenntnis der Gefühlsgewißheit ppe_046.030 als Wesenskern wirklich eine Darstellung von innen gab.
ppe_046.031 War man zeitweilig versucht, die Biographie preiszugeben, weil sie ppe_046.032 mehr als schriftstellerische denn als wissenschaftliche Leistung einzuschätzen ppe_046.033 war, so standen alle anderen Aufgaben im Zeichen methodischer ppe_046.034 Bemühung um strengste Zuverlässigkeit. Die neue geisteswissenschaftliche ppe_046.035 Literaturbetrachtung wollte aus philologischer Enge, ppe_046.036 historischer Materialbelastung und psychologischem Mechanismus erlösen ppe_046.037 und trotzdem nicht minder wissenschaftlich sein als die Naturwissenschaften. ppe_046.038 Herbert Cysarz hat sie sogar in seiner Methodologie ppe_046.039 (1926) als die Geisteswissenschaft schlechthin betrachtet und sie in ppe_046.040 dieser Bedeutung ausgesprochenermaßen von der Literaturgeschichte ppe_046.041 als Fachwissenschaft unterschieden. Andere sind, indem sie nach Klärung
ppe_046.001 Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft mußten die gleiche ppe_046.002 Öffnung ihrer Grenzen erleben. Wohl unterschied sich die moderne ppe_046.003 geistesgeschichtliche Monographie in ihren Grundlagen von den ppe_046.004 Dichterromanen und von den als „historische Belletristik“ oder ppe_046.005 „biographie romancée“ gekennzeichneten Zwischenleistungen; aber ppe_046.006 was auch ihr allmählich verloren ging, war die objektive Gültigkeit. ppe_046.007 Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer ppe_046.008 extrem positivistischen Wissenschaftsauffassung aus, behauptet, hervorragende ppe_046.009 Einzelpersönlichkeiten seien nicht Gegenstand ernster ppe_046.010 Wissenschaft, sondern schöngeistiger Geschichtserzählung, die er ppe_046.011 „histoire littéraire“ nannte. Wenn dreißig Jahre später Ernst Bertram ppe_046.012 die Ziele seines „Nietzsche“ (1918) mit den Worten „Mythologie“ ppe_046.013 und „Legende“ charakterisierte, so lag darin wohl der skeptische ppe_046.014 Verzicht auf Erkennen, „wie es eigentlich gewesen sei“, aber zugleich ppe_046.015 die Anerkennung geschichtsbildender Kräfte, denen der zeitgebundene ppe_046.016 Darsteller sich unterworfen fühlte. Aber wenn im dritten Jahrzehnt ppe_046.017 des Jahrhunderts der Gestalt Heinrichs von Kleist fast gleichzeitig ppe_046.018 vier Monographien gewidmet wurden, von denen jede ein anderes ppe_046.019 Leitmotiv erklingen ließ, so daß der eine (Witkop, 1922) den Metaphysiker ppe_046.020 zeichnete, der andere (Gundolf, 1922) den expressionistischen ppe_046.021 Hysteriker, der dritte (Muschg, 1923) den Erkenntnisproblematiker, ppe_046.022 der vierte (Braig, 1925) den Büßer auf dem katholischen Heilsweg, ppe_046.023 so bestanden die einander widersprechenden Ergebnisse solcher ppe_046.024 prophetischen Optik nicht mehr in Wissenschaft, sondern in Glaubenslehren. ppe_046.025 Es ist dann von Gerhard Fricke in seinem Buch „Gefühl und ppe_046.026 Schicksal bei Heinrich v. Kleist“ (1933) der Versuch gemacht worden, ppe_046.027 dieser unmethodischen Willkür einen gesicherten Weg gegenüberzustellen, ppe_046.028 der von der strengen Interpretation des Dichters und seiner ppe_046.029 Selbstzeugnisse ausging und in der Erkenntnis der Gefühlsgewißheit ppe_046.030 als Wesenskern wirklich eine Darstellung von innen gab.
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Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer ppe_046.008
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/70>, abgerufen am 21.11.2024.
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