Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

lichen vorigen Jahrhunderts lag es, seine üppig wuchernden Staats¬
untersuchungen immer eigentlich nur über den "Staat im Allge¬
meinen" anzustellen und Alles nach Einer Schablone zuzuschneiden.
Als ob nicht gerade die Verfassung mehr als Andres Ausdruck des
jeweiligen praktischen Volksgeistes wäre, in der Hauptsache im¬
mer so gut oder so schlecht, als die sonstige Bildungs- und Ent¬
wicklungsstufe eines Volks auf "dem Weg des Fortschritts im Be¬
wußtsein der Freiheit". Das hat, trotz allen Streits innerlich ver¬
wandt mit der großen Philosophie ihrer Zeit, die "historische Rechts¬
schule" zu Anfang unserer Aera richtig betont und damit Front
gemacht gegen das schulmäßig-experimentirende Uebertragen frem¬
der Staatsordnungen, statt die Kleider auf den Leib anzumessen.

Auf allen diesen Gebieten, wo der individuelle Volkskarakter
das Vorrecht hat zum Ausdruck zu kommen, können wir also statt
internationaler Nivellirung nur belehrende Anregung und hierauf
Assimilirung zugestehen. Dann aber ist allerdings auch hier der
geistesfreie Wechselverkehr der Nationen vom größten Werth, um die
Vollgesundheit des Organismus "Menschheit" darzustellen. Es sei
nur daran erinnert, wie im vorigen Jahrhundert, gleich dem Königs¬
sohn im Märchen vom verzauberten Dornröschen, der Naturgenius
des Engländers Shakspeare unsre deutsche Muse aus ihrem tiefen,
todesähnlichen Schlaf erweckt hat. Nicht minder hat der durch polari¬
schen Gegensatz eigenthümlich verwandte Geist unserer angelsächsischen
Vettern in David Hume den Philosophen Kant aus seinem "dogma¬
tischen Schlummer gerüttelt" und zum größten Weltweisen der Neu¬
zeit, zum Anfänger einer glänzenden Reihe von Nachfolgern gemacht.

Kehren wir zum Schluß noch einmal vom Allgemeinen zum
Besonderen zurück und greifen mitten, hinein ins farbige Leben.

Wir Deutschen galten lange Zeit förmlich als das zum
Kosmopolitismus geradezu prädestinirte Volk, das zum Pa¬
triotismus
weder die Fähigkeit noch eigentlich das geschichtliche
Recht habe. Was jene Befähigung betrifft, so hätte freilich das

lichen vorigen Jahrhunderts lag es, ſeine üppig wuchernden Staats¬
unterſuchungen immer eigentlich nur über den „Staat im Allge¬
meinen“ anzuſtellen und Alles nach Einer Schablone zuzuſchneiden.
Als ob nicht gerade die Verfaſſung mehr als Andres Ausdruck des
jeweiligen praktiſchen Volksgeiſtes wäre, in der Hauptſache im¬
mer ſo gut oder ſo ſchlecht, als die ſonſtige Bildungs- und Ent¬
wicklungsſtufe eines Volks auf „dem Weg des Fortſchritts im Be¬
wußtſein der Freiheit“. Das hat, trotz allen Streits innerlich ver¬
wandt mit der großen Philoſophie ihrer Zeit, die „hiſtoriſche Rechts¬
ſchule“ zu Anfang unſerer Aera richtig betont und damit Front
gemacht gegen das ſchulmäßig-experimentirende Uebertragen frem¬
der Staatsordnungen, ſtatt die Kleider auf den Leib anzumeſſen.

Auf allen dieſen Gebieten, wo der individuelle Volkskarakter
das Vorrecht hat zum Ausdruck zu kommen, können wir alſo ſtatt
internationaler Nivellirung nur belehrende Anregung und hierauf
Aſſimilirung zugeſtehen. Dann aber iſt allerdings auch hier der
geiſtesfreie Wechſelverkehr der Nationen vom größten Werth, um die
Vollgeſundheit des Organismus „Menſchheit“ darzuſtellen. Es ſei
nur daran erinnert, wie im vorigen Jahrhundert, gleich dem Königs¬
ſohn im Märchen vom verzauberten Dornröschen, der Naturgenius
des Engländers Shakſpeare unſre deutſche Muſe aus ihrem tiefen,
todesähnlichen Schlaf erweckt hat. Nicht minder hat der durch polari¬
ſchen Gegenſatz eigenthümlich verwandte Geiſt unſerer angelſächſiſchen
Vettern in David Hume den Philoſophen Kant aus ſeinem „dogma¬
tiſchen Schlummer gerüttelt“ und zum größten Weltweiſen der Neu¬
zeit, zum Anfänger einer glänzenden Reihe von Nachfolgern gemacht.

Kehren wir zum Schluß noch einmal vom Allgemeinen zum
Beſonderen zurück und greifen mitten, hinein ins farbige Leben.

Wir Deutſchen galten lange Zeit förmlich als das zum
Kosmopolitismus geradezu prädeſtinirte Volk, das zum Pa¬
triotismus
weder die Fähigkeit noch eigentlich das geſchichtliche
Recht habe. Was jene Befähigung betrifft, ſo hätte freilich das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0049" n="39"/>
lichen vorigen Jahrhunderts lag es, &#x017F;eine üppig wuchernden Staats¬<lb/>
unter&#x017F;uchungen immer eigentlich nur über den &#x201E;Staat im Allge¬<lb/>
meinen&#x201C; anzu&#x017F;tellen und Alles nach Einer Schablone zuzu&#x017F;chneiden.<lb/>
Als ob nicht gerade die Verfa&#x017F;&#x017F;ung mehr als Andres Ausdruck des<lb/>
jeweiligen prakti&#x017F;chen Volksgei&#x017F;tes wäre, in der Haupt&#x017F;ache im¬<lb/>
mer &#x017F;o gut oder &#x017F;o &#x017F;chlecht, als die &#x017F;on&#x017F;tige Bildungs- und Ent¬<lb/>
wicklungs&#x017F;tufe eines Volks auf &#x201E;dem Weg des Fort&#x017F;chritts im Be¬<lb/>
wußt&#x017F;ein der Freiheit&#x201C;. Das hat, trotz allen Streits innerlich ver¬<lb/>
wandt mit der großen Philo&#x017F;ophie ihrer Zeit, die &#x201E;hi&#x017F;tori&#x017F;che Rechts¬<lb/>
&#x017F;chule&#x201C; zu Anfang un&#x017F;erer Aera richtig betont und damit Front<lb/>
gemacht gegen das &#x017F;chulmäßig-experimentirende Uebertragen frem¬<lb/>
der Staatsordnungen, &#x017F;tatt die Kleider auf den Leib anzume&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
      <p>Auf allen die&#x017F;en Gebieten, wo der individuelle Volkskarakter<lb/>
das Vorrecht hat zum Ausdruck zu kommen, können wir al&#x017F;o &#x017F;tatt<lb/>
internationaler Nivellirung nur belehrende Anregung und hierauf<lb/>
A&#x017F;&#x017F;imilirung zuge&#x017F;tehen. Dann aber i&#x017F;t allerdings auch hier der<lb/>
gei&#x017F;tesfreie Wech&#x017F;elverkehr der Nationen vom größten Werth, um die<lb/>
Vollge&#x017F;undheit des Organismus &#x201E;Men&#x017F;chheit&#x201C; darzu&#x017F;tellen. Es &#x017F;ei<lb/>
nur daran erinnert, wie im vorigen Jahrhundert, gleich dem Königs¬<lb/>
&#x017F;ohn im Märchen vom verzauberten Dornröschen, der Naturgenius<lb/>
des Engländers <hi rendition="#g">Shak&#x017F;peare</hi> un&#x017F;re deut&#x017F;che Mu&#x017F;e aus ihrem tiefen,<lb/>
todesähnlichen Schlaf erweckt hat. Nicht minder hat der durch polari¬<lb/>
&#x017F;chen Gegen&#x017F;atz eigenthümlich verwandte Gei&#x017F;t un&#x017F;erer angel&#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Vettern in David <hi rendition="#g">Hume</hi> den Philo&#x017F;ophen Kant aus &#x017F;einem &#x201E;dogma¬<lb/>
ti&#x017F;chen Schlummer gerüttelt&#x201C; und zum größten Weltwei&#x017F;en der Neu¬<lb/>
zeit, zum Anfänger einer glänzenden Reihe von Nachfolgern gemacht.</p><lb/>
      <p>Kehren wir zum Schluß noch einmal vom Allgemeinen zum<lb/>
Be&#x017F;onderen zurück und greifen mitten, hinein ins farbige Leben.</p><lb/>
      <p>Wir <hi rendition="#g">Deut&#x017F;chen</hi> galten lange Zeit förmlich als das zum<lb/><hi rendition="#g">Kosmopolitismus</hi> geradezu präde&#x017F;tinirte Volk, das zum <hi rendition="#g">Pa¬<lb/>
triotismus</hi> weder die Fähigkeit noch eigentlich das ge&#x017F;chichtliche<lb/>
Recht habe. Was jene Befähigung betrifft, &#x017F;o hätte freilich das<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0049] lichen vorigen Jahrhunderts lag es, ſeine üppig wuchernden Staats¬ unterſuchungen immer eigentlich nur über den „Staat im Allge¬ meinen“ anzuſtellen und Alles nach Einer Schablone zuzuſchneiden. Als ob nicht gerade die Verfaſſung mehr als Andres Ausdruck des jeweiligen praktiſchen Volksgeiſtes wäre, in der Hauptſache im¬ mer ſo gut oder ſo ſchlecht, als die ſonſtige Bildungs- und Ent¬ wicklungsſtufe eines Volks auf „dem Weg des Fortſchritts im Be¬ wußtſein der Freiheit“. Das hat, trotz allen Streits innerlich ver¬ wandt mit der großen Philoſophie ihrer Zeit, die „hiſtoriſche Rechts¬ ſchule“ zu Anfang unſerer Aera richtig betont und damit Front gemacht gegen das ſchulmäßig-experimentirende Uebertragen frem¬ der Staatsordnungen, ſtatt die Kleider auf den Leib anzumeſſen. Auf allen dieſen Gebieten, wo der individuelle Volkskarakter das Vorrecht hat zum Ausdruck zu kommen, können wir alſo ſtatt internationaler Nivellirung nur belehrende Anregung und hierauf Aſſimilirung zugeſtehen. Dann aber iſt allerdings auch hier der geiſtesfreie Wechſelverkehr der Nationen vom größten Werth, um die Vollgeſundheit des Organismus „Menſchheit“ darzuſtellen. Es ſei nur daran erinnert, wie im vorigen Jahrhundert, gleich dem Königs¬ ſohn im Märchen vom verzauberten Dornröschen, der Naturgenius des Engländers Shakſpeare unſre deutſche Muſe aus ihrem tiefen, todesähnlichen Schlaf erweckt hat. Nicht minder hat der durch polari¬ ſchen Gegenſatz eigenthümlich verwandte Geiſt unſerer angelſächſiſchen Vettern in David Hume den Philoſophen Kant aus ſeinem „dogma¬ tiſchen Schlummer gerüttelt“ und zum größten Weltweiſen der Neu¬ zeit, zum Anfänger einer glänzenden Reihe von Nachfolgern gemacht. Kehren wir zum Schluß noch einmal vom Allgemeinen zum Beſonderen zurück und greifen mitten, hinein ins farbige Leben. Wir Deutſchen galten lange Zeit förmlich als das zum Kosmopolitismus geradezu prädeſtinirte Volk, das zum Pa¬ triotismus weder die Fähigkeit noch eigentlich das geſchichtliche Recht habe. Was jene Befähigung betrifft, ſo hätte freilich das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/49
Zitationshilfe: Pfleiderer, Edmund: Kosmopolitismus und Patriotismus. Berlin, 1874, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pfleiderer_kosmopolitismus_1874/49>, abgerufen am 03.12.2024.