Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Zunächst ist gegen diese Argumentation, welche, nach
Volkmann's eigener Angabe, einen Beweis vorstellen soll, die
Frage zu richten: Ist es wirklich erwiesen, dass in dem Falle,
wenn die besagten Momente deleter auf das Hirn wirken, das
Bewusstsein radical verschwunden ist? -- Es ist aber gewiss,
dass ein Wirbelthier, dessen Hirn ausser Function getreten ist,
der Erkenntniss der noch vorhandenen oder nicht vorhandenen
sensorischen Thätigkeit absolut dieselben Schwierigkeiten in den
Weg legt, wie die Enthaupteten. Hierzu kommt noch, dass vom
Rückenmarke keine sensorischen Zustände fixirt, d. h. keine
Erinnerungen zurückgehalten werden, sodass in dem Augen¬
blicke, wo das Hirnbewusstsein wieder mit in's Leben tritt,
vom Rückenmarksbewusstsein keine früher hierin gewesenen Ge¬
danken ihm mitgetheilt werden können. Gesetzt nun aber auch
es sei in der That alles Bewusstsein erloschen, was gar nicht
erwiesen ist, so möchten wir dann doch zunächst fragen: Ist
es denn nun auch gewiss, dass nur das Gehirn aus seiner
sensorischen Function getreten und das Rückenmark für seine
sensorische Function nicht mitleide? Wissen wir denn, dass
dieses letztere nicht sympathisire, wenn der grosse Centralheerd
so mächtig ergriffen ist? -- Hiermit eben erkennen wir, dass
mit der obigen Deduction gar Nichts gesagt und Nichts bewie¬
sen ist. Wenn bei Entzündungen der Hemisphären Convulsio¬
nen eintreten, so leiten wir sie auch nicht direct von den
Hirntheilen ab, sondern von einem Gegendrucke auf das Rük¬
kenmark oder von Sympathie. Es ist deshalb als unerlässliche
Bedingung wohl zu scheiden: das propter hoc vom post hoc.
Das aber ist in dem Volkmann'schen Argument, wie wir
sehen, nicht geschehen.

Wir wenden uns nunmehr zu einem, dem so eben be¬
sprochenen Einwande ähnlichen, welchen sich selber bereits
Legallois gemacht und als unlösbar angesehen hat. Er ent¬
wickelt ihn a. a. O. Oeuvres p. 21:

"Jene innigen Beziehungen zwischen dem Hirn und Rük¬
kenmarke helfen einzelne Thatsachen zu erklären, welche für

Zunächst ist gegen diese Argumentation, welche, nach
Volkmann's eigener Angabe, einen Beweis vorstellen soll, die
Frage zu richten: Ist es wirklich erwiesen, dass in dem Falle,
wenn die besagten Momente deleter auf das Hirn wirken, das
Bewusstsein radical verschwunden ist? — Es ist aber gewiss,
dass ein Wirbelthier, dessen Hirn ausser Function getreten ist,
der Erkenntniss der noch vorhandenen oder nicht vorhandenen
sensorischen Thätigkeit absolut dieselben Schwierigkeiten in den
Weg legt, wie die Enthaupteten. Hierzu kommt noch, dass vom
Rückenmarke keine sensorischen Zustände fixirt, d. h. keine
Erinnerungen zurückgehalten werden, sodass in dem Augen¬
blicke, wo das Hirnbewusstsein wieder mit in's Leben tritt,
vom Rückenmarksbewusstsein keine früher hierin gewesenen Ge¬
danken ihm mitgetheilt werden können. Gesetzt nun aber auch
es sei in der That alles Bewusstsein erloschen, was gar nicht
erwiesen ist, so möchten wir dann doch zunächst fragen: Ist
es denn nun auch gewiss, dass nur das Gehirn aus seiner
sensorischen Function getreten und das Rückenmark für seine
sensorische Function nicht mitleide? Wissen wir denn, dass
dieses letztere nicht sympathisire, wenn der grosse Centralheerd
so mächtig ergriffen ist? — Hiermit eben erkennen wir, dass
mit der obigen Deduction gar Nichts gesagt und Nichts bewie¬
sen ist. Wenn bei Entzündungen der Hemisphären Convulsio¬
nen eintreten, so leiten wir sie auch nicht direct von den
Hirntheilen ab, sondern von einem Gegendrucke auf das Rük¬
kenmark oder von Sympathie. Es ist deshalb als unerlässliche
Bedingung wohl zu scheiden: das propter hoc vom post hoc.
Das aber ist in dem Volkmann'schen Argument, wie wir
sehen, nicht geschehen.

Wir wenden uns nunmehr zu einem, dem so eben be¬
sprochenen Einwande ähnlichen, welchen sich selber bereits
Legallois gemacht und als unlösbar angesehen hat. Er ent¬
wickelt ihn a. a. O. Oeuvres p. 21:

„Jene innigen Beziehungen zwischen dem Hirn und Rük¬
kenmarke helfen einzelne Thatsachen zu erklären, welche für

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0079" n="57"/>
        <p>Zunächst ist gegen diese Argumentation, welche, nach<lb/><hi rendition="#g">Volkmann's</hi> eigener Angabe, einen Beweis vorstellen soll, die<lb/>
Frage zu richten: Ist es wirklich erwiesen, dass in dem Falle,<lb/>
wenn die besagten Momente deleter auf das Hirn wirken, das<lb/>
Bewusstsein radical verschwunden ist? &#x2014; Es ist aber gewiss,<lb/>
dass ein Wirbelthier, dessen Hirn ausser Function getreten ist,<lb/>
der Erkenntniss der noch vorhandenen oder nicht vorhandenen<lb/>
sensorischen Thätigkeit absolut dieselben Schwierigkeiten in den<lb/>
Weg legt, wie die Enthaupteten. Hierzu kommt noch, dass vom<lb/>
Rückenmarke keine sensorischen Zustände fixirt, d. h. keine<lb/>
Erinnerungen zurückgehalten werden, sodass in dem Augen¬<lb/>
blicke, wo das Hirnbewusstsein wieder mit in's Leben tritt,<lb/>
vom Rückenmarksbewusstsein keine früher hierin gewesenen Ge¬<lb/>
danken ihm mitgetheilt werden können. Gesetzt nun aber auch<lb/>
es sei in der That alles Bewusstsein erloschen, was gar nicht<lb/>
erwiesen ist, so möchten wir dann doch zunächst fragen: Ist<lb/>
es denn nun auch gewiss, dass nur das Gehirn aus seiner<lb/>
sensorischen Function getreten und das Rückenmark für seine<lb/>
sensorische Function nicht mitleide? Wissen wir denn, dass<lb/>
dieses letztere nicht sympathisire, wenn der grosse Centralheerd<lb/>
so mächtig ergriffen ist? &#x2014; Hiermit eben erkennen wir, dass<lb/>
mit der obigen Deduction gar Nichts gesagt und Nichts bewie¬<lb/>
sen ist. Wenn bei Entzündungen der Hemisphären Convulsio¬<lb/>
nen eintreten, so leiten wir sie auch nicht direct von den<lb/>
Hirntheilen ab, sondern von einem Gegendrucke auf das Rük¬<lb/>
kenmark oder von Sympathie. Es ist deshalb als unerlässliche<lb/>
Bedingung wohl zu scheiden: das propter hoc vom post hoc.<lb/>
Das aber ist in dem <hi rendition="#g">Volkmann</hi>'schen Argument, wie wir<lb/>
sehen, nicht geschehen.</p><lb/>
        <p>Wir wenden uns nunmehr zu einem, dem so eben be¬<lb/>
sprochenen Einwande ähnlichen, welchen sich selber bereits<lb/><hi rendition="#g">Legallois</hi> gemacht und als unlösbar angesehen hat. Er ent¬<lb/>
wickelt ihn a. a. O. Oeuvres p. 21:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jene innigen Beziehungen zwischen dem Hirn und Rük¬<lb/>
kenmarke helfen einzelne Thatsachen zu erklären, welche für<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0079] Zunächst ist gegen diese Argumentation, welche, nach Volkmann's eigener Angabe, einen Beweis vorstellen soll, die Frage zu richten: Ist es wirklich erwiesen, dass in dem Falle, wenn die besagten Momente deleter auf das Hirn wirken, das Bewusstsein radical verschwunden ist? — Es ist aber gewiss, dass ein Wirbelthier, dessen Hirn ausser Function getreten ist, der Erkenntniss der noch vorhandenen oder nicht vorhandenen sensorischen Thätigkeit absolut dieselben Schwierigkeiten in den Weg legt, wie die Enthaupteten. Hierzu kommt noch, dass vom Rückenmarke keine sensorischen Zustände fixirt, d. h. keine Erinnerungen zurückgehalten werden, sodass in dem Augen¬ blicke, wo das Hirnbewusstsein wieder mit in's Leben tritt, vom Rückenmarksbewusstsein keine früher hierin gewesenen Ge¬ danken ihm mitgetheilt werden können. Gesetzt nun aber auch es sei in der That alles Bewusstsein erloschen, was gar nicht erwiesen ist, so möchten wir dann doch zunächst fragen: Ist es denn nun auch gewiss, dass nur das Gehirn aus seiner sensorischen Function getreten und das Rückenmark für seine sensorische Function nicht mitleide? Wissen wir denn, dass dieses letztere nicht sympathisire, wenn der grosse Centralheerd so mächtig ergriffen ist? — Hiermit eben erkennen wir, dass mit der obigen Deduction gar Nichts gesagt und Nichts bewie¬ sen ist. Wenn bei Entzündungen der Hemisphären Convulsio¬ nen eintreten, so leiten wir sie auch nicht direct von den Hirntheilen ab, sondern von einem Gegendrucke auf das Rük¬ kenmark oder von Sympathie. Es ist deshalb als unerlässliche Bedingung wohl zu scheiden: das propter hoc vom post hoc. Das aber ist in dem Volkmann'schen Argument, wie wir sehen, nicht geschehen. Wir wenden uns nunmehr zu einem, dem so eben be¬ sprochenen Einwande ähnlichen, welchen sich selber bereits Legallois gemacht und als unlösbar angesehen hat. Er ent¬ wickelt ihn a. a. O. Oeuvres p. 21: „Jene innigen Beziehungen zwischen dem Hirn und Rük¬ kenmarke helfen einzelne Thatsachen zu erklären, welche für

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/79
Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/79>, abgerufen am 21.11.2024.