Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorzug der kriechenden Poesie
sicher wohnen könne. Es trifft sich ja oft zu,
daß ein Paar Feinde in einerley Hause wohnen.
Sie stellen sich aber, als wüßten sie nicht von
einander. Der eine wohnet im öbersten, der
andere im untersten Stockwerke. Sie vermei-
den sorgfältig, daß sie einander nicht in den
Wurf kommen. Gehet der öberste bey des an-
dern Thüre vorbey: So stellt sich solcher, als
sey er nicht zu Hause, und höre ihn nicht. Der
unten wohnt, hat nicht leicht etwas im öbersten
Stockwerke zu verrichten, also treibt ihn kein
Fürwitz hinauf. Auf solche Art toleriren sie
einander unter einerley Dach, ohne sich an ein-
ander feindselig zu vergreifen. Gießt aber ja
der von oben etwas herunter, das dem, der un-
ten wohnet, molestirt: So ruft der wol in die
Höhe ein Paar derbe Worte, er solle es künftig
bleiben lassen; aber die Nachbarn im mittlern
Stockwerke lassen die beyden erhitzten Zins-
Hähne
nicht zusammen: So bleibet Friede im
Hause. Auf diesen Schlag bin ich gesonnen,
die erhabenen Poeten nicht in ihrem öbersten
Stockwerke anzugreifen. Wenn ich aber zei-
gen werde, es sey besser, auf der Erde zu woh-
nen,
weil man da nicht so viel Treppen steigen
dürfe: So hat der, der hoch wohnet, dagegen
den Vortheil, daß er freyere Luft geniesset,
und die Erden-Dünste ihm nicht so in die Nase
steigen, als dem andern.

§ 8. Der andere Weg, wie sogar erhabe-
ne und kriechende Poeten mit einander friedlich

umgehen

Vorzug der kriechenden Poeſie
ſicher wohnen koͤnne. Es trifft ſich ja oft zu,
daß ein Paar Feinde in einerley Hauſe wohnen.
Sie ſtellen ſich aber, als wuͤßten ſie nicht von
einander. Der eine wohnet im oͤberſten, der
andere im unterſten Stockwerke. Sie vermei-
den ſorgfaͤltig, daß ſie einander nicht in den
Wurf kommen. Gehet der oͤberſte bey des an-
dern Thuͤre vorbey: So ſtellt ſich ſolcher, als
ſey er nicht zu Hauſe, und hoͤre ihn nicht. Der
unten wohnt, hat nicht leicht etwas im oͤberſten
Stockwerke zu verrichten, alſo treibt ihn kein
Fuͤrwitz hinauf. Auf ſolche Art toleriren ſie
einander unter einerley Dach, ohne ſich an ein-
ander feindſelig zu vergreifen. Gießt aber ja
der von oben etwas herunter, das dem, der un-
ten wohnet, moleſtirt: So ruft der wol in die
Hoͤhe ein Paar derbe Worte, er ſolle es kuͤnftig
bleiben laſſen; aber die Nachbarn im mittlern
Stockwerke laſſen die beyden erhitzten Zins-
Haͤhne
nicht zuſammen: So bleibet Friede im
Hauſe. Auf dieſen Schlag bin ich geſonnen,
die erhabenen Poeten nicht in ihrem oͤberſten
Stockwerke anzugreifen. Wenn ich aber zei-
gen werde, es ſey beſſer, auf der Erde zu woh-
nen,
weil man da nicht ſo viel Treppen ſteigen
duͤrfe: So hat der, der hoch wohnet, dagegen
den Vortheil, daß er freyere Luft genieſſet,
und die Erden-Duͤnſte ihm nicht ſo in die Naſe
ſteigen, als dem andern.

§ 8. Der andere Weg, wie ſogar erhabe-
ne und kriechende Poeten mit einander friedlich

umgehen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0136" n="128"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Vorzug der kriechenden Poe&#x017F;ie</hi></fw><lb/>
&#x017F;icher wohnen ko&#x0364;nne. Es trifft &#x017F;ich ja oft zu,<lb/>
daß ein Paar Feinde in einerley Hau&#x017F;e wohnen.<lb/>
Sie &#x017F;tellen &#x017F;ich aber, als wu&#x0364;ßten &#x017F;ie nicht von<lb/>
einander. Der eine wohnet im o&#x0364;ber&#x017F;ten, der<lb/>
andere im unter&#x017F;ten Stockwerke. Sie vermei-<lb/>
den &#x017F;orgfa&#x0364;ltig, daß &#x017F;ie einander nicht in den<lb/>
Wurf kommen. Gehet der o&#x0364;ber&#x017F;te bey des an-<lb/>
dern Thu&#x0364;re vorbey: So &#x017F;tellt &#x017F;ich &#x017F;olcher, als<lb/>
&#x017F;ey er nicht zu Hau&#x017F;e, und ho&#x0364;re ihn nicht. Der<lb/>
unten wohnt, hat nicht leicht etwas im o&#x0364;ber&#x017F;ten<lb/>
Stockwerke zu verrichten, al&#x017F;o treibt ihn kein<lb/>
Fu&#x0364;rwitz hinauf. Auf &#x017F;olche Art <hi rendition="#fr">toleriren</hi> &#x017F;ie<lb/>
einander unter einerley Dach, ohne &#x017F;ich an ein-<lb/>
ander feind&#x017F;elig zu vergreifen. Gießt aber ja<lb/>
der von oben etwas herunter, das dem, der un-<lb/>
ten wohnet, mole&#x017F;tirt: So ruft der wol in die<lb/>
Ho&#x0364;he ein Paar derbe Worte, er &#x017F;olle es ku&#x0364;nftig<lb/>
bleiben la&#x017F;&#x017F;en; aber die Nachbarn im mittlern<lb/>
Stockwerke la&#x017F;&#x017F;en die beyden <hi rendition="#fr">erhitzten Zins-<lb/>
Ha&#x0364;hne</hi> nicht zu&#x017F;ammen: So bleibet Friede im<lb/>
Hau&#x017F;e. Auf die&#x017F;en Schlag bin ich ge&#x017F;onnen,<lb/>
die erhabenen Poeten nicht in ihrem o&#x0364;ber&#x017F;ten<lb/>
Stockwerke anzugreifen. Wenn ich aber zei-<lb/>
gen werde, es &#x017F;ey be&#x017F;&#x017F;er, <hi rendition="#fr">auf der Erde zu woh-<lb/>
nen,</hi> weil man da nicht &#x017F;o viel Treppen &#x017F;teigen<lb/>
du&#x0364;rfe: So hat der, der hoch wohnet, dagegen<lb/>
den Vortheil, daß er <hi rendition="#fr">freyere Luft</hi> genie&#x017F;&#x017F;et,<lb/>
und die Erden-Du&#x0364;n&#x017F;te ihm nicht &#x017F;o in die Na&#x017F;e<lb/>
&#x017F;teigen, als dem andern.</p><lb/>
        <p>§ 8. Der <hi rendition="#fr">andere Weg,</hi> wie &#x017F;ogar erhabe-<lb/>
ne und kriechende Poeten mit einander friedlich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">umgehen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0136] Vorzug der kriechenden Poeſie ſicher wohnen koͤnne. Es trifft ſich ja oft zu, daß ein Paar Feinde in einerley Hauſe wohnen. Sie ſtellen ſich aber, als wuͤßten ſie nicht von einander. Der eine wohnet im oͤberſten, der andere im unterſten Stockwerke. Sie vermei- den ſorgfaͤltig, daß ſie einander nicht in den Wurf kommen. Gehet der oͤberſte bey des an- dern Thuͤre vorbey: So ſtellt ſich ſolcher, als ſey er nicht zu Hauſe, und hoͤre ihn nicht. Der unten wohnt, hat nicht leicht etwas im oͤberſten Stockwerke zu verrichten, alſo treibt ihn kein Fuͤrwitz hinauf. Auf ſolche Art toleriren ſie einander unter einerley Dach, ohne ſich an ein- ander feindſelig zu vergreifen. Gießt aber ja der von oben etwas herunter, das dem, der un- ten wohnet, moleſtirt: So ruft der wol in die Hoͤhe ein Paar derbe Worte, er ſolle es kuͤnftig bleiben laſſen; aber die Nachbarn im mittlern Stockwerke laſſen die beyden erhitzten Zins- Haͤhne nicht zuſammen: So bleibet Friede im Hauſe. Auf dieſen Schlag bin ich geſonnen, die erhabenen Poeten nicht in ihrem oͤberſten Stockwerke anzugreifen. Wenn ich aber zei- gen werde, es ſey beſſer, auf der Erde zu woh- nen, weil man da nicht ſo viel Treppen ſteigen duͤrfe: So hat der, der hoch wohnet, dagegen den Vortheil, daß er freyere Luft genieſſet, und die Erden-Duͤnſte ihm nicht ſo in die Naſe ſteigen, als dem andern. § 8. Der andere Weg, wie ſogar erhabe- ne und kriechende Poeten mit einander friedlich umgehen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/136
Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/136>, abgerufen am 24.11.2024.