Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.ppo_149.001 Wie darf ich, Höchster, vor dir stehn, ppo_149.002 ppo_149.007Und mein beschämtes Haupt zu deinen Wolken strecken? ppo_149.003 Jch bin ein kahler Baum, gleich einer dürren Hecken, ppo_149.004 Von keinen Früchten reich, von keiner Zierath schön. ppo_149.005 O wehe mir! Die Axt der Rache blinket schon, ppo_149.006 Und dräut mir schnödem Holz mit dem verdienten Lohn! Erbarme dich! erwecke meine Kraft, ppo_149.008 ppo_149.016Du Wesen voller Huld und Liebe; ppo_149.009 Und fülle mich mit neuem Saft, ppo_149.010 Mit einem gnadenvollen Triebe, ppo_149.011 Eh mich dein Grimm zur Straf' und Flamme rafft! ppo_149.012 Herr, laß mich noch in dieser Zeit, ppo_149.013 Obgleich mit später Frucht, zu deinem Ruhme dienen! ppo_149.014 So werd' ich dort in Ewigkeit ppo_149.015 Bei dir im Paradiese grünen! 2) von Albr. v. Haller (+ 1777). ppo_149.017Beim Absterben seiner geliebten Mariane. ppo_149.018 Soll ich von deinem Tode singen? ppo_149.020 ppo_149.027O Mariane, welch' ein Lied! ppo_149.021 Wann Seufzer mit den Worten ringen, ppo_149.022 Und ein Begriff den andern flieht. ppo_149.023 Die Lust, die ich an dir empfunden, ppo_149.024 Vergrößert jetzund meine Noth; ppo_149.025 Jch öffne meines Herzens Wunden, ppo_149.026 Und fühle nochmals deinen Tod. Jch seh dich noch, wie du erblaßtest, ppo_149.028
Wie ich verzweifelnd zu dir trat, ppo_149.029 Wie du die letzten Kräfte faßtest ppo_149.030 Um noch ein Wort, das ich erbat. ppo_149.031 O Seele, voll der reinsten Triebe! ppo_149.001 Wie darf ich, Höchster, vor dir stehn, ppo_149.002 ppo_149.007Und mein beschämtes Haupt zu deinen Wolken strecken? ppo_149.003 Jch bin ein kahler Baum, gleich einer dürren Hecken, ppo_149.004 Von keinen Früchten reich, von keiner Zierath schön. ppo_149.005 O wehe mir! Die Axt der Rache blinket schon, ppo_149.006 Und dräut mir schnödem Holz mit dem verdienten Lohn! Erbarme dich! erwecke meine Kraft, ppo_149.008 ppo_149.016Du Wesen voller Huld und Liebe; ppo_149.009 Und fülle mich mit neuem Saft, ppo_149.010 Mit einem gnadenvollen Triebe, ppo_149.011 Eh mich dein Grimm zur Straf' und Flamme rafft! ppo_149.012 Herr, laß mich noch in dieser Zeit, ppo_149.013 Obgleich mit später Frucht, zu deinem Ruhme dienen! ppo_149.014 So werd' ich dort in Ewigkeit ppo_149.015 Bei dir im Paradiese grünen! 2) von Albr. v. Haller († 1777). ppo_149.017Beim Absterben seiner geliebten Mariane. ppo_149.018 Soll ich von deinem Tode singen? ppo_149.020 ppo_149.027O Mariane, welch' ein Lied! ppo_149.021 Wann Seufzer mit den Worten ringen, ppo_149.022 Und ein Begriff den andern flieht. ppo_149.023 Die Lust, die ich an dir empfunden, ppo_149.024 Vergrößert jetzund meine Noth; ppo_149.025 Jch öffne meines Herzens Wunden, ppo_149.026 Und fühle nochmals deinen Tod. Jch seh dich noch, wie du erblaßtest, ppo_149.028
Wie ich verzweifelnd zu dir trat, ppo_149.029 Wie du die letzten Kräfte faßtest ppo_149.030 Um noch ein Wort, das ich erbat. ppo_149.031 O Seele, voll der reinsten Triebe! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0161" n="149"/> <lb n="ppo_149.001"/> <lg> <l>Wie darf ich, Höchster, vor dir stehn,</l> <lb n="ppo_149.002"/> <l>Und mein beschämtes Haupt zu deinen Wolken strecken?</l> <lb n="ppo_149.003"/> <l>Jch bin ein kahler Baum, gleich einer dürren Hecken,</l> <lb n="ppo_149.004"/> <l>Von keinen Früchten reich, von keiner Zierath schön.</l> <lb n="ppo_149.005"/> <l>O wehe mir! Die Axt der Rache blinket schon,</l> <lb n="ppo_149.006"/> <l>Und dräut mir schnödem Holz mit dem verdienten Lohn! </l> </lg> <lb n="ppo_149.007"/> <lg> <l> Erbarme dich! erwecke meine Kraft,</l> <lb n="ppo_149.008"/> <l>Du Wesen voller Huld und Liebe;</l> <lb n="ppo_149.009"/> <l>Und fülle mich mit neuem Saft,</l> <lb n="ppo_149.010"/> <l>Mit einem gnadenvollen Triebe,</l> <lb n="ppo_149.011"/> <l>Eh mich dein Grimm zur Straf' und Flamme rafft!</l> <lb n="ppo_149.012"/> <l>Herr, laß mich noch in dieser Zeit,</l> <lb n="ppo_149.013"/> <l>Obgleich mit später Frucht, zu deinem Ruhme dienen!</l> <lb n="ppo_149.014"/> <l>So werd' ich dort in Ewigkeit</l> <lb n="ppo_149.015"/> <l>Bei dir im Paradiese grünen!</l> </lg> <lb n="ppo_149.016"/> <p> <hi rendition="#et"> 2) von Albr. v. <hi rendition="#g">Haller</hi> († 1777).</hi> </p> <lb n="ppo_149.017"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Beim Absterben seiner geliebten Mariane.</hi><lb n="ppo_149.018"/>(gedichtet 1736; — abgekürzt)</hi> </p> <lb n="ppo_149.019"/> <lg> <l> Soll ich von deinem Tode singen?</l> <lb n="ppo_149.020"/> <l>O Mariane, welch' ein Lied!</l> <lb n="ppo_149.021"/> <l>Wann Seufzer mit den Worten ringen,</l> <lb n="ppo_149.022"/> <l>Und ein Begriff den andern flieht.</l> <lb n="ppo_149.023"/> <l>Die Lust, die ich an dir empfunden,</l> <lb n="ppo_149.024"/> <l>Vergrößert jetzund meine Noth;</l> <lb n="ppo_149.025"/> <l>Jch öffne meines Herzens Wunden,</l> <lb n="ppo_149.026"/> <l>Und fühle nochmals deinen Tod. </l> </lg> <lb n="ppo_149.027"/> <lg> <l> Jch seh dich noch, wie du erblaßtest,</l> <lb n="ppo_149.028"/> <l>Wie ich verzweifelnd zu dir trat,</l> <lb n="ppo_149.029"/> <l>Wie du die letzten Kräfte faßtest</l> <lb n="ppo_149.030"/> <l>Um noch ein Wort, das ich erbat.</l> <lb n="ppo_149.031"/> <l>O Seele, voll der reinsten Triebe!</l> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [149/0161]
ppo_149.001
Wie darf ich, Höchster, vor dir stehn, ppo_149.002
Und mein beschämtes Haupt zu deinen Wolken strecken? ppo_149.003
Jch bin ein kahler Baum, gleich einer dürren Hecken, ppo_149.004
Von keinen Früchten reich, von keiner Zierath schön. ppo_149.005
O wehe mir! Die Axt der Rache blinket schon, ppo_149.006
Und dräut mir schnödem Holz mit dem verdienten Lohn!
ppo_149.007
Erbarme dich! erwecke meine Kraft, ppo_149.008
Du Wesen voller Huld und Liebe; ppo_149.009
Und fülle mich mit neuem Saft, ppo_149.010
Mit einem gnadenvollen Triebe, ppo_149.011
Eh mich dein Grimm zur Straf' und Flamme rafft! ppo_149.012
Herr, laß mich noch in dieser Zeit, ppo_149.013
Obgleich mit später Frucht, zu deinem Ruhme dienen! ppo_149.014
So werd' ich dort in Ewigkeit ppo_149.015
Bei dir im Paradiese grünen!
ppo_149.016
2) von Albr. v. Haller († 1777).
ppo_149.017
Beim Absterben seiner geliebten Mariane. ppo_149.018
(gedichtet 1736; — abgekürzt)
ppo_149.019
Soll ich von deinem Tode singen? ppo_149.020
O Mariane, welch' ein Lied! ppo_149.021
Wann Seufzer mit den Worten ringen, ppo_149.022
Und ein Begriff den andern flieht. ppo_149.023
Die Lust, die ich an dir empfunden, ppo_149.024
Vergrößert jetzund meine Noth; ppo_149.025
Jch öffne meines Herzens Wunden, ppo_149.026
Und fühle nochmals deinen Tod.
ppo_149.027
Jch seh dich noch, wie du erblaßtest, ppo_149.028
Wie ich verzweifelnd zu dir trat, ppo_149.029
Wie du die letzten Kräfte faßtest ppo_149.030
Um noch ein Wort, das ich erbat. ppo_149.031
O Seele, voll der reinsten Triebe!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/161 |
Zitationshilfe: | Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/161>, abgerufen am 16.02.2025. |