Man kann sagen, daß die Dichtkunst auch noch itzt die angenehmste Beschäfftigung der persi- schen Nation ausmache. Sie haben von Na- tur die besten Anlagen dazu, ihr Genie ist fruchtbar, und ihre Vorstellung lebhaft: dazu kommt noch die angenehme und für die Dicht- kunst bequeme Sprache. In ihrer Prosa fin- det man überall Verse untermischt und die Lie- be zu den Versen ist so groß, daß sie sich im Reden derselben oft bedienen. Sie glauben, daß eine Rede, die mit vielen Versen gewürzt ist, geschickter sey, den Innhalt derselben besser zu fassen und zu behalten. -- Eines von den Mitteln, deren sich die alten Perser bedienten, um das Andenken einer großen That zu vere- wigen, war, daß man darüber ein Gedicht ver- fertigte, und solches in den Versammlungen und bey großen Festins absang. Diese Ge- wohnheit wird auch noch itzt allgemein in Per- sien beybehalten. Vor alten Zeiten beschäff- tigte man sich mit Viehweiden und andern Dingen. Die Muße nun, die ihnen dieses stil- le Leben verschaffte, verwandten sie allein auf die Dichtkunst. Und hieraus scheint die Schä- ferpoesie, welche die Griechen ganz wahrschein- lich von den Morgenländern entlehnt haben, entstanden zu seyn.
Vorzüglich üben sich die jetzigen persischen Dichter in solchen Dingen, welche die Galan- terie, Geschichte und Moral betreffen. Die Gedichte der ersten Art sind gemeiniglich mit
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Man kann ſagen, daß die Dichtkunſt auch noch itzt die angenehmſte Beſchaͤfftigung der perſi- ſchen Nation ausmache. Sie haben von Na- tur die beſten Anlagen dazu, ihr Genie iſt fruchtbar, und ihre Vorſtellung lebhaft: dazu kommt noch die angenehme und fuͤr die Dicht- kunſt bequeme Sprache. In ihrer Proſa fin- det man uͤberall Verſe untermiſcht und die Lie- be zu den Verſen iſt ſo groß, daß ſie ſich im Reden derſelben oft bedienen. Sie glauben, daß eine Rede, die mit vielen Verſen gewuͤrzt iſt, geſchickter ſey, den Innhalt derſelben beſſer zu faſſen und zu behalten. — Eines von den Mitteln, deren ſich die alten Perſer bedienten, um das Andenken einer großen That zu vere- wigen, war, daß man daruͤber ein Gedicht ver- fertigte, und ſolches in den Verſammlungen und bey großen Feſtins abſang. Dieſe Ge- wohnheit wird auch noch itzt allgemein in Per- ſien beybehalten. Vor alten Zeiten beſchaͤff- tigte man ſich mit Viehweiden und andern Dingen. Die Muße nun, die ihnen dieſes ſtil- le Leben verſchaffte, verwandten ſie allein auf die Dichtkunſt. Und hieraus ſcheint die Schaͤ- ferpoeſie, welche die Griechen ganz wahrſchein- lich von den Morgenlaͤndern entlehnt haben, entſtanden zu ſeyn.
Vorzuͤglich uͤben ſich die jetzigen perſiſchen Dichter in ſolchen Dingen, welche die Galan- terie, Geſchichte und Moral betreffen. Die Gedichte der erſten Art ſind gemeiniglich mit
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Man kann ſagen, daß die Dichtkunſt auch noch
itzt die angenehmſte Beſchaͤfftigung der perſi-
ſchen Nation ausmache. Sie haben von Na-
tur die beſten Anlagen dazu, ihr Genie iſt
fruchtbar, und ihre Vorſtellung lebhaft: dazu
kommt noch die angenehme und fuͤr die Dicht-
kunſt bequeme Sprache. In ihrer Proſa fin-
det man uͤberall Verſe untermiſcht und die Lie-
be zu den Verſen iſt ſo groß, daß ſie ſich im
Reden derſelben oft bedienen. Sie glauben,
daß eine Rede, die mit vielen Verſen gewuͤrzt
iſt, geſchickter ſey, den Innhalt derſelben beſſer
zu faſſen und zu behalten. — Eines von den
Mitteln, deren ſich die alten Perſer bedienten,
um das Andenken einer großen That zu vere-
wigen, war, daß man daruͤber ein Gedicht ver-
fertigte, und ſolches in den Verſammlungen
und bey großen Feſtins abſang. Dieſe Ge-
wohnheit wird auch noch itzt allgemein in Per-
ſien beybehalten. Vor alten Zeiten beſchaͤff-
tigte man ſich mit Viehweiden und andern
Dingen. Die Muße nun, die ihnen dieſes ſtil-
le Leben verſchaffte, verwandten ſie allein auf
die Dichtkunſt. Und hieraus ſcheint die Schaͤ-
ferpoeſie, welche die Griechen ganz wahrſchein-
lich von den Morgenlaͤndern entlehnt haben,
entſtanden zu ſeyn.
Vorzuͤglich uͤben ſich die jetzigen perſiſchen
Dichter in ſolchen Dingen, welche die Galan-
terie, Geſchichte und Moral betreffen. Die
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[Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 1. Breslau, 1776, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poppe_charakteristik01_1776/109>, abgerufen am 21.11.2024.
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