Man muß indessen gestehen, daß die alten Chineser, bey allen ihrem Stolze und Uebermu- the, dennoch mit glänzenden Eigenschaften ver- sehen waren, die sie für die damaligen Zeiten, noch immer ehrwürdig genug machen. Man erkennt noch immer in ihnen, wenn man ihre Ge- schichte liest, den Geist eines weisen, klugen und verschlagenen Volks, das gute und zum Theil richtige Begriffe von Staatskunst besaß; dessen Gesetze das wahre Wohl des allgemeinen Besten zur Hauptabsicht hatten, und für deren Beob- achtung sie eben so redliche Hochachtung, als natürliche Neigung hatten. Ich halte daher die Meynung derer, welche dieß alte Volk zu sehr erheben, und dann auch zu sehr erniedri- gen, für zu überspannt, und die goldene Mit- telstraße verfehlt.
Der Geist der neuern Chineser hat noch immer viel Eigenthümliches von den Alten an sich. Sie beweisen eben die Munterkeit, Fleiß, Geschäfftigkeit in allen Angelegenheiten: eben die Trägheit in den höhern Wissenschaften und solchen Dingen, welche anhaltende Anstrengun- gen der Geisteskräfte erfordern: eben die be- wundernswürdige Geduld in Sachen, die we- nig Kopf verlangen, hauptsächlich aber an Handarbeiten, sie mögen entweder den Nutzen oder das Vergnügen zur Hauptabsicht haben. An Scharfsinn und witzigen Einfällen sind sie vorzüglich reich: nur Schade, daß ihre er- zwungene Ernsthaftigkeit üble Eindrücke hinter
sich
N 2
Man muß indeſſen geſtehen, daß die alten Chineſer, bey allen ihrem Stolze und Uebermu- the, dennoch mit glaͤnzenden Eigenſchaften ver- ſehen waren, die ſie fuͤr die damaligen Zeiten, noch immer ehrwuͤrdig genug machen. Man erkennt noch immer in ihnen, wenn man ihre Ge- ſchichte lieſt, den Geiſt eines weiſen, klugen und verſchlagenen Volks, das gute und zum Theil richtige Begriffe von Staatskunſt beſaß; deſſen Geſetze das wahre Wohl des allgemeinen Beſten zur Hauptabſicht hatten, und fuͤr deren Beob- achtung ſie eben ſo redliche Hochachtung, als natuͤrliche Neigung hatten. Ich halte daher die Meynung derer, welche dieß alte Volk zu ſehr erheben, und dann auch zu ſehr erniedri- gen, fuͤr zu uͤberſpannt, und die goldene Mit- telſtraße verfehlt.
Der Geiſt der neuern Chineſer hat noch immer viel Eigenthuͤmliches von den Alten an ſich. Sie beweiſen eben die Munterkeit, Fleiß, Geſchaͤfftigkeit in allen Angelegenheiten: eben die Traͤgheit in den hoͤhern Wiſſenſchaften und ſolchen Dingen, welche anhaltende Anſtrengun- gen der Geiſteskraͤfte erfordern: eben die be- wundernswuͤrdige Geduld in Sachen, die we- nig Kopf verlangen, hauptſaͤchlich aber an Handarbeiten, ſie moͤgen entweder den Nutzen oder das Vergnuͤgen zur Hauptabſicht haben. An Scharfſinn und witzigen Einfaͤllen ſind ſie vorzuͤglich reich: nur Schade, daß ihre er- zwungene Ernſthaftigkeit uͤble Eindruͤcke hinter
ſich
N 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0215"n="195"/><p>Man muß indeſſen geſtehen, daß die alten<lb/>
Chineſer, bey allen ihrem Stolze und Uebermu-<lb/>
the, dennoch mit glaͤnzenden Eigenſchaften ver-<lb/>ſehen waren, die ſie fuͤr die damaligen Zeiten,<lb/>
noch immer ehrwuͤrdig genug machen. Man<lb/>
erkennt noch immer in ihnen, wenn man ihre Ge-<lb/>ſchichte lieſt, den Geiſt eines weiſen, klugen und<lb/>
verſchlagenen Volks, das gute und zum Theil<lb/>
richtige Begriffe von Staatskunſt beſaß; deſſen<lb/>
Geſetze das wahre Wohl des allgemeinen Beſten<lb/>
zur Hauptabſicht hatten, und fuͤr deren Beob-<lb/>
achtung ſie eben ſo redliche Hochachtung, als<lb/>
natuͤrliche Neigung hatten. Ich halte daher<lb/>
die Meynung derer, welche dieß alte Volk zu<lb/>ſehr erheben, und dann auch zu ſehr erniedri-<lb/>
gen, fuͤr zu uͤberſpannt, und die goldene Mit-<lb/>
telſtraße verfehlt.</p><lb/><p>Der Geiſt der neuern Chineſer hat noch<lb/>
immer viel Eigenthuͤmliches von den Alten an<lb/>ſich. Sie beweiſen eben die Munterkeit, Fleiß,<lb/>
Geſchaͤfftigkeit in allen Angelegenheiten: eben<lb/>
die Traͤgheit in den hoͤhern Wiſſenſchaften und<lb/>ſolchen Dingen, welche anhaltende Anſtrengun-<lb/>
gen der Geiſteskraͤfte erfordern: eben die be-<lb/>
wundernswuͤrdige Geduld in Sachen, die we-<lb/>
nig Kopf verlangen, hauptſaͤchlich aber an<lb/>
Handarbeiten, ſie moͤgen entweder den Nutzen<lb/>
oder das Vergnuͤgen zur Hauptabſicht haben.<lb/>
An Scharfſinn und witzigen Einfaͤllen ſind ſie<lb/>
vorzuͤglich reich: nur Schade, daß ihre er-<lb/>
zwungene Ernſthaftigkeit uͤble Eindruͤcke hinter<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[195/0215]
Man muß indeſſen geſtehen, daß die alten
Chineſer, bey allen ihrem Stolze und Uebermu-
the, dennoch mit glaͤnzenden Eigenſchaften ver-
ſehen waren, die ſie fuͤr die damaligen Zeiten,
noch immer ehrwuͤrdig genug machen. Man
erkennt noch immer in ihnen, wenn man ihre Ge-
ſchichte lieſt, den Geiſt eines weiſen, klugen und
verſchlagenen Volks, das gute und zum Theil
richtige Begriffe von Staatskunſt beſaß; deſſen
Geſetze das wahre Wohl des allgemeinen Beſten
zur Hauptabſicht hatten, und fuͤr deren Beob-
achtung ſie eben ſo redliche Hochachtung, als
natuͤrliche Neigung hatten. Ich halte daher
die Meynung derer, welche dieß alte Volk zu
ſehr erheben, und dann auch zu ſehr erniedri-
gen, fuͤr zu uͤberſpannt, und die goldene Mit-
telſtraße verfehlt.
Der Geiſt der neuern Chineſer hat noch
immer viel Eigenthuͤmliches von den Alten an
ſich. Sie beweiſen eben die Munterkeit, Fleiß,
Geſchaͤfftigkeit in allen Angelegenheiten: eben
die Traͤgheit in den hoͤhern Wiſſenſchaften und
ſolchen Dingen, welche anhaltende Anſtrengun-
gen der Geiſteskraͤfte erfordern: eben die be-
wundernswuͤrdige Geduld in Sachen, die we-
nig Kopf verlangen, hauptſaͤchlich aber an
Handarbeiten, ſie moͤgen entweder den Nutzen
oder das Vergnuͤgen zur Hauptabſicht haben.
An Scharfſinn und witzigen Einfaͤllen ſind ſie
vorzuͤglich reich: nur Schade, daß ihre er-
zwungene Ernſthaftigkeit uͤble Eindruͤcke hinter
ſich
N 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 1. Breslau, 1776, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poppe_charakteristik01_1776/215>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.