Gegen Mittag verließ ich Dublin ganz allein, be- quem auf meinem guten Gaul etablirt, ließ Wagen und Leute in der Stadt zurück, und sandte einen kleinen Mantelsack mit den nothwendigsten Effekten durch die Diligence voraus. Leider aber muß mit diesem eine Verwechselung vorgegangen seyn, denn obgleich ich seinetwegen den ganzen Tag und die Nacht, in dem nur 20 Meilen von Dublin entfernten Bray verweilte, langte er nicht an, und ich habe da- her, um nicht entweder zurückreisen, oder noch länger warten zu müssen, mir einen schottischen Mantel, nebst etwas Wäsche in Bray gekauft, und die Tour ganz auf Studentenweise angetreten. Ich soupirte mit einem jungen Geistlichen von guter Familie, der mich, bei sonst sehr leichtfertigen Reden, durch seine Ortho- doxie in Religionssachen lachen machte. Aber so ist die Frömmigkeit der Engländer beschaffen, es ist eine Partheisache für sie und zugleich eine Schicklich- keitssitte -- und so wie sie im Politischen stets ihrer
Briefe eines Verstorbenen. I. 12
Neun und zwanzigſter Brief.
Gaſthof zu Avoka den 22ſten Auguſt 1828.
Geliebte Julie!
Gegen Mittag verließ ich Dublin ganz allein, be- quem auf meinem guten Gaul etablirt, ließ Wagen und Leute in der Stadt zurück, und ſandte einen kleinen Mantelſack mit den nothwendigſten Effekten durch die Diligence voraus. Leider aber muß mit dieſem eine Verwechſelung vorgegangen ſeyn, denn obgleich ich ſeinetwegen den ganzen Tag und die Nacht, in dem nur 20 Meilen von Dublin entfernten Bray verweilte, langte er nicht an, und ich habe da- her, um nicht entweder zurückreiſen, oder noch länger warten zu müſſen, mir einen ſchottiſchen Mantel, nebſt etwas Wäſche in Bray gekauft, und die Tour ganz auf Studentenweiſe angetreten. Ich ſoupirte mit einem jungen Geiſtlichen von guter Familie, der mich, bei ſonſt ſehr leichtfertigen Reden, durch ſeine Ortho- doxie in Religionsſachen lachen machte. Aber ſo iſt die Frömmigkeit der Engländer beſchaffen, es iſt eine Partheiſache für ſie und zugleich eine Schicklich- keitsſitte — und ſo wie ſie im Politiſchen ſtets ihrer
Briefe eines Verſtorbenen. I. 12
<TEI><text><body><pbfacs="#f0201"n="[177]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Neun und zwanzigſter Brief.</hi></head><lb/><divn="2"><opener><dateline><hirendition="#et">Gaſthof zu Avoka den 22<hirendition="#sup">ſten</hi> Auguſt 1828.</hi></dateline><lb/><salute>Geliebte <hirendition="#aq">Julie!</hi></salute></opener><lb/><p>Gegen Mittag verließ ich Dublin ganz allein, be-<lb/>
quem auf meinem guten Gaul etablirt, ließ Wagen<lb/>
und Leute in der Stadt zurück, und ſandte einen<lb/>
kleinen Mantelſack mit den nothwendigſten Effekten<lb/>
durch die Diligence voraus. Leider aber muß mit<lb/>
dieſem eine Verwechſelung vorgegangen ſeyn, denn<lb/>
obgleich ich ſeinetwegen den ganzen Tag und die<lb/>
Nacht, in dem nur 20 Meilen von Dublin entfernten<lb/>
Bray verweilte, langte er nicht an, und ich habe da-<lb/>
her, um nicht entweder zurückreiſen, oder noch länger<lb/>
warten zu müſſen, mir einen ſchottiſchen Mantel, nebſt<lb/>
etwas Wäſche in Bray gekauft, und die Tour ganz<lb/>
auf Studentenweiſe angetreten. Ich ſoupirte mit<lb/>
einem jungen Geiſtlichen von guter Familie, der mich,<lb/>
bei ſonſt ſehr leichtfertigen Reden, durch ſeine Ortho-<lb/>
doxie in Religionsſachen lachen machte. Aber ſo iſt<lb/>
die Frömmigkeit der Engländer beſchaffen, es iſt eine<lb/><hirendition="#g">Partheiſache</hi> für ſie und zugleich eine Schicklich-<lb/>
keitsſitte — und ſo wie ſie im Politiſchen ſtets ihrer<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Briefe eines Verſtorbenen. <hirendition="#aq">I.</hi> 12</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[177]/0201]
Neun und zwanzigſter Brief.
Gaſthof zu Avoka den 22ſten Auguſt 1828.
Geliebte Julie!
Gegen Mittag verließ ich Dublin ganz allein, be-
quem auf meinem guten Gaul etablirt, ließ Wagen
und Leute in der Stadt zurück, und ſandte einen
kleinen Mantelſack mit den nothwendigſten Effekten
durch die Diligence voraus. Leider aber muß mit
dieſem eine Verwechſelung vorgegangen ſeyn, denn
obgleich ich ſeinetwegen den ganzen Tag und die
Nacht, in dem nur 20 Meilen von Dublin entfernten
Bray verweilte, langte er nicht an, und ich habe da-
her, um nicht entweder zurückreiſen, oder noch länger
warten zu müſſen, mir einen ſchottiſchen Mantel, nebſt
etwas Wäſche in Bray gekauft, und die Tour ganz
auf Studentenweiſe angetreten. Ich ſoupirte mit
einem jungen Geiſtlichen von guter Familie, der mich,
bei ſonſt ſehr leichtfertigen Reden, durch ſeine Ortho-
doxie in Religionsſachen lachen machte. Aber ſo iſt
die Frömmigkeit der Engländer beſchaffen, es iſt eine
Partheiſache für ſie und zugleich eine Schicklich-
keitsſitte — und ſo wie ſie im Politiſchen ſtets ihrer
Briefe eines Verſtorbenen. I. 12
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. [177]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/201>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.