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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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sich fortan der Mensch, die Familie, der Staat.
Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, ist
nachtheilig. Das Individuum, welches sich egoistisch
allein gelten lassen will, unterliegt der Gewalt der
Mehrheit -- die romanhafte Schwärmerei, welche
selbst verhungert um Andere zu ernähren, wird zwar
von den Menschen, die jedes ihnen gebrachte Opfer
billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen,
edel oder närrisch genannt werden, demohngeachtet
aber nicht allgemein zu bestehen im Stande seyn,
und daher auch nie eine Norm der Nachahmung,
eine Pflicht, werden können. Märtyrer, die sich
für die heilige Zahl drei braten, oder zur Ehre Bra-
ma's, die Nägel der einen Hand durch die andere
wachsen lassen, gehören zu derselben Klasse, wiewohl
zu der niedrigsten Stufe derselben, und erhalten
ebenfalls, nach der Beschaffenheit der jedesmaligen
Ansicht, die verschiedenen Namen von Heiligen oder
Wahnsinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Ab-
normitäten. Nicht daß ich damit in Abrede stellen
wollte, daß eine vernunftgemäße Verläugnung und
das Opfer seiner selbst zum Besten Anderer, etwas
Schönes und Erhabnes seyn könne. Keineswegs,
es ist dann allerdings ein schönes, d. h. ein der
Menschheit wohlthätiges, Beispiel vom Siege des
gesellschaftlichen Prinzips über das individuelle, wel-
ches eben so gut vorkommen muß, als sein nur all-
zuhäufiger Gegensatz in denen, die nur sich im
Auge behalten wollen, und so endlich schonungs-
und mitleidslose Verbrecher werden, die der Gesell-

Briefe eines Verstorbenen. II. 15

ſich fortan der Menſch, die Familie, der Staat.
Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, iſt
nachtheilig. Das Individuum, welches ſich egoiſtiſch
allein gelten laſſen will, unterliegt der Gewalt der
Mehrheit — die romanhafte Schwärmerei, welche
ſelbſt verhungert um Andere zu ernähren, wird zwar
von den Menſchen, die jedes ihnen gebrachte Opfer
billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen,
edel oder närriſch genannt werden, demohngeachtet
aber nicht allgemein zu beſtehen im Stande ſeyn,
und daher auch nie eine Norm der Nachahmung,
eine Pflicht, werden können. Märtyrer, die ſich
für die heilige Zahl drei braten, oder zur Ehre Bra-
ma’s, die Nägel der einen Hand durch die andere
wachſen laſſen, gehören zu derſelben Klaſſe, wiewohl
zu der niedrigſten Stufe derſelben, und erhalten
ebenfalls, nach der Beſchaffenheit der jedesmaligen
Anſicht, die verſchiedenen Namen von Heiligen oder
Wahnſinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Ab-
normitäten. Nicht daß ich damit in Abrede ſtellen
wollte, daß eine vernunftgemäße Verläugnung und
das Opfer ſeiner ſelbſt zum Beſten Anderer, etwas
Schönes und Erhabnes ſeyn könne. Keineswegs,
es iſt dann allerdings ein ſchönes, d. h. ein der
Menſchheit wohlthätiges, Beiſpiel vom Siege des
geſellſchaftlichen Prinzips über das individuelle, wel-
ches eben ſo gut vorkommen muß, als ſein nur all-
zuhäufiger Gegenſatz in denen, die nur ſich im
Auge behalten wollen, und ſo endlich ſchonungs-
und mitleidsloſe Verbrecher werden, die der Geſell-

Briefe eines Verſtorbenen. II. 15
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[225/0247] ſich fortan der Menſch, die Familie, der Staat. Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, iſt nachtheilig. Das Individuum, welches ſich egoiſtiſch allein gelten laſſen will, unterliegt der Gewalt der Mehrheit — die romanhafte Schwärmerei, welche ſelbſt verhungert um Andere zu ernähren, wird zwar von den Menſchen, die jedes ihnen gebrachte Opfer billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen, edel oder närriſch genannt werden, demohngeachtet aber nicht allgemein zu beſtehen im Stande ſeyn, und daher auch nie eine Norm der Nachahmung, eine Pflicht, werden können. Märtyrer, die ſich für die heilige Zahl drei braten, oder zur Ehre Bra- ma’s, die Nägel der einen Hand durch die andere wachſen laſſen, gehören zu derſelben Klaſſe, wiewohl zu der niedrigſten Stufe derſelben, und erhalten ebenfalls, nach der Beſchaffenheit der jedesmaligen Anſicht, die verſchiedenen Namen von Heiligen oder Wahnſinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Ab- normitäten. Nicht daß ich damit in Abrede ſtellen wollte, daß eine vernunftgemäße Verläugnung und das Opfer ſeiner ſelbſt zum Beſten Anderer, etwas Schönes und Erhabnes ſeyn könne. Keineswegs, es iſt dann allerdings ein ſchönes, d. h. ein der Menſchheit wohlthätiges, Beiſpiel vom Siege des geſellſchaftlichen Prinzips über das individuelle, wel- ches eben ſo gut vorkommen muß, als ſein nur all- zuhäufiger Gegenſatz in denen, die nur ſich im Auge behalten wollen, und ſo endlich ſchonungs- und mitleidsloſe Verbrecher werden, die der Geſell- Briefe eines Verſtorbenen. II. 15

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/247>, abgerufen am 22.11.2024.