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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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dominirt, also Kopf und Phantasie -- wenn ich mich
so ausdrücken darf, kräftiger als das Herz sind, und
der theilende Verstand zu leicht die Innigkeit des vol-
len Gefühls aufhebt -- sind diesem Irrwege am mei-
sten unterworfen. Es ist aber so schwer, diesen sub-
tilen Verzweigungen und geheimnißvollen Wechsel-
wirkungen zu folgen, daß man oft nachher für pri-
maires Gefühl hält, was doch nur Rückwirkung ei-
nes sophistischen Verstandes ist.

Da nun Recht und Unrecht, auf die einzelnen Hand-
lungen im menschlichen Leben angewandt, bei ihren
vielfachen Bedingnissen und Verwickelungen offenbar
relativ werden muß, so bleibt nichts übrig, als daß
ein Jeder sich mit Hülfe aller seiner Seelenkräfte recht
deutlich mache, redlich ergründe, was er für Recht
und Unrecht hält, und was er vernünftigerweise da-
für zu halten habe, dann aber ruhig diesen Maßstab
anlege, und sich auch um sein sogenanntes Gewissen,
d. h. jene innere Unbehaglichkeit und Ungewißheit bei
Collisionsfällen nicht kümmere, welche nicht ganz aus-
bleiben kann, da die in der Kindheit und frühesten
Jugend erhaltenen Lehren, recht oder unrecht, ver-
nünftig oder abgeschmackt, immer einen unwiderstehli-
chen Eindruck auf unser Gemüth ausüben werden. *)

*) Es kann überdem Fälle geben, wo das Gewissen, so zu
sagen, recht und unrecht zugleich hat, d. h. eine nothwen-
dige Handlung vorkommen, die durchaus von einer Seite
fehlerhaft seyn muß, wo man dann nur das kleinere Uebel
zu wählen hat, und es wird keinen vernünftigen Moralisten

dominirt, alſo Kopf und Phantaſie — wenn ich mich
ſo ausdrücken darf, kräftiger als das Herz ſind, und
der theilende Verſtand zu leicht die Innigkeit des vol-
len Gefühls aufhebt — ſind dieſem Irrwege am mei-
ſten unterworfen. Es iſt aber ſo ſchwer, dieſen ſub-
tilen Verzweigungen und geheimnißvollen Wechſel-
wirkungen zu folgen, daß man oft nachher für pri-
maires Gefühl hält, was doch nur Rückwirkung ei-
nes ſophiſtiſchen Verſtandes iſt.

Da nun Recht und Unrecht, auf die einzelnen Hand-
lungen im menſchlichen Leben angewandt, bei ihren
vielfachen Bedingniſſen und Verwickelungen offenbar
relativ werden muß, ſo bleibt nichts übrig, als daß
ein Jeder ſich mit Hülfe aller ſeiner Seelenkräfte recht
deutlich mache, redlich ergründe, was er für Recht
und Unrecht hält, und was er vernünftigerweiſe da-
für zu halten habe, dann aber ruhig dieſen Maßſtab
anlege, und ſich auch um ſein ſogenanntes Gewiſſen,
d. h. jene innere Unbehaglichkeit und Ungewißheit bei
Colliſionsfällen nicht kümmere, welche nicht ganz aus-
bleiben kann, da die in der Kindheit und früheſten
Jugend erhaltenen Lehren, recht oder unrecht, ver-
nünftig oder abgeſchmackt, immer einen unwiderſtehli-
chen Eindruck auf unſer Gemüth ausüben werden. *)

*) Es kann uͤberdem Faͤlle geben, wo das Gewiſſen, ſo zu
ſagen, recht und unrecht zugleich hat, d. h. eine nothwen-
dige Handlung vorkommen, die durchaus von einer Seite
fehlerhaft ſeyn muß, wo man dann nur das kleinere Uebel
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[326/0372] dominirt, alſo Kopf und Phantaſie — wenn ich mich ſo ausdrücken darf, kräftiger als das Herz ſind, und der theilende Verſtand zu leicht die Innigkeit des vol- len Gefühls aufhebt — ſind dieſem Irrwege am mei- ſten unterworfen. Es iſt aber ſo ſchwer, dieſen ſub- tilen Verzweigungen und geheimnißvollen Wechſel- wirkungen zu folgen, daß man oft nachher für pri- maires Gefühl hält, was doch nur Rückwirkung ei- nes ſophiſtiſchen Verſtandes iſt. Da nun Recht und Unrecht, auf die einzelnen Hand- lungen im menſchlichen Leben angewandt, bei ihren vielfachen Bedingniſſen und Verwickelungen offenbar relativ werden muß, ſo bleibt nichts übrig, als daß ein Jeder ſich mit Hülfe aller ſeiner Seelenkräfte recht deutlich mache, redlich ergründe, was er für Recht und Unrecht hält, und was er vernünftigerweiſe da- für zu halten habe, dann aber ruhig dieſen Maßſtab anlege, und ſich auch um ſein ſogenanntes Gewiſſen, d. h. jene innere Unbehaglichkeit und Ungewißheit bei Colliſionsfällen nicht kümmere, welche nicht ganz aus- bleiben kann, da die in der Kindheit und früheſten Jugend erhaltenen Lehren, recht oder unrecht, ver- nünftig oder abgeſchmackt, immer einen unwiderſtehli- chen Eindruck auf unſer Gemüth ausüben werden. *) *) Es kann uͤberdem Faͤlle geben, wo das Gewiſſen, ſo zu ſagen, recht und unrecht zugleich hat, d. h. eine nothwen- dige Handlung vorkommen, die durchaus von einer Seite fehlerhaft ſeyn muß, wo man dann nur das kleinere Uebel zu waͤhlen hat, und es wird keinen vernuͤnftigen Moraliſten

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/372>, abgerufen am 22.11.2024.