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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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herausgetreten ist, alles Bleibende nur durch Anstren-
gung "im Schweiße seines Angesichts", auch die Er-
kenntniß. Er ist aber ein Ganzes, aus unzähligen
Theilen zusammengesetzt, und nur im vollständigen
Gleichgewicht dieser Theile kann er als Mensch, d. h.
als hier zugleich geistig und sinnlich erscheinendes We-
sen, vollständig glücklich und befriedigt seyn. Es ist
der gewöhnliche, immer wiederkehrende Fehler, nur
eine Seite vorherrschend ausbilden zu wollen, einer
das Gebiet der Religion, ein andrer die strenge Ver-
nunft, das Weltkind nur den Verstand und das
Sinnliche. Alles zusammen aber in gehöriger Har-
monie angewendet, genossen, und so zu sagen künst-
lerisch vereinigt, giebt allein für diese Erde und die
Existenz auf ihr, das vollständigste Leben, die ächte
Wahrheit.

Unter diesem Gesichtspunkt muß auch das, was
wir Gewissen nennen, betrachtet, und das Wahre
vom Unwahren geschieden werden.

Unter dem Wahren verstehe ich, die untrügliche
Mahnung des göttlichen Geistes in uns, die uns von
dem Bösen überhaupt, als dem ganz Einseitigen, In-
consequenten und Negativen abhält, und dies bedarf
keiner weitern Erklärung -- das Falsche aber ist das-
jenige, welches nur vom Conventionellen, der Ge-
wohnheit, Autorität, auf diesem Grunde erwachsenen
Spitzfindigkeiten, und übertriebner Aengstlichkeit, mit
einem Wort, aus Furcht, entspringt. Feine, leicht
erregbare Naturen -- in denen das Cerebralsystem

herausgetreten iſt, alles Bleibende nur durch Anſtren-
gung „im Schweiße ſeines Angeſichts“, auch die Er-
kenntniß. Er iſt aber ein Ganzes, aus unzähligen
Theilen zuſammengeſetzt, und nur im vollſtändigen
Gleichgewicht dieſer Theile kann er als Menſch, d. h.
als hier zugleich geiſtig und ſinnlich erſcheinendes We-
ſen, vollſtändig glücklich und befriedigt ſeyn. Es iſt
der gewöhnliche, immer wiederkehrende Fehler, nur
eine Seite vorherrſchend ausbilden zu wollen, einer
das Gebiet der Religion, ein andrer die ſtrenge Ver-
nunft, das Weltkind nur den Verſtand und das
Sinnliche. Alles zuſammen aber in gehöriger Har-
monie angewendet, genoſſen, und ſo zu ſagen künſt-
leriſch vereinigt, giebt allein für dieſe Erde und die
Exiſtenz auf ihr, das vollſtändigſte Leben, die ächte
Wahrheit.

Unter dieſem Geſichtspunkt muß auch das, was
wir Gewiſſen nennen, betrachtet, und das Wahre
vom Unwahren geſchieden werden.

Unter dem Wahren verſtehe ich, die untrügliche
Mahnung des göttlichen Geiſtes in uns, die uns von
dem Böſen überhaupt, als dem ganz Einſeitigen, In-
conſequenten und Negativen abhält, und dies bedarf
keiner weitern Erklärung — das Falſche aber iſt das-
jenige, welches nur vom Conventionellen, der Ge-
wohnheit, Autorität, auf dieſem Grunde erwachſenen
Spitzfindigkeiten, und übertriebner Aengſtlichkeit, mit
einem Wort, aus Furcht, entſpringt. Feine, leicht
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[325/0371] herausgetreten iſt, alles Bleibende nur durch Anſtren- gung „im Schweiße ſeines Angeſichts“, auch die Er- kenntniß. Er iſt aber ein Ganzes, aus unzähligen Theilen zuſammengeſetzt, und nur im vollſtändigen Gleichgewicht dieſer Theile kann er als Menſch, d. h. als hier zugleich geiſtig und ſinnlich erſcheinendes We- ſen, vollſtändig glücklich und befriedigt ſeyn. Es iſt der gewöhnliche, immer wiederkehrende Fehler, nur eine Seite vorherrſchend ausbilden zu wollen, einer das Gebiet der Religion, ein andrer die ſtrenge Ver- nunft, das Weltkind nur den Verſtand und das Sinnliche. Alles zuſammen aber in gehöriger Har- monie angewendet, genoſſen, und ſo zu ſagen künſt- leriſch vereinigt, giebt allein für dieſe Erde und die Exiſtenz auf ihr, das vollſtändigſte Leben, die ächte Wahrheit. Unter dieſem Geſichtspunkt muß auch das, was wir Gewiſſen nennen, betrachtet, und das Wahre vom Unwahren geſchieden werden. Unter dem Wahren verſtehe ich, die untrügliche Mahnung des göttlichen Geiſtes in uns, die uns von dem Böſen überhaupt, als dem ganz Einſeitigen, In- conſequenten und Negativen abhält, und dies bedarf keiner weitern Erklärung — das Falſche aber iſt das- jenige, welches nur vom Conventionellen, der Ge- wohnheit, Autorität, auf dieſem Grunde erwachſenen Spitzfindigkeiten, und übertriebner Aengſtlichkeit, mit einem Wort, aus Furcht, entſpringt. Feine, leicht erregbare Naturen — in denen das Cerebralſyſtem

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/371>, abgerufen am 22.11.2024.