versenkte ihn zu häufig in Anfälle unbesiegbarer Me- lancholie, wenn jede Illusion verschwand, und er die Menschen, zu denen er mit gehörte, in aller Nackt- heit ihrer angebornen Gebrechlichkeit sah."
Ja, diese Schilderung ist aus der Seele gegriffen, und eben so wahr ist es, daß mit einer solchen Dispo- sition geboren, man in der umgebenden Welt sich nur wohl fühlen kann, wenn man durch die Ver- hältnisse sehr -- sehr hoch über sie gestellt ist, oder ganz unbemerkt in ihr lebt.
So weit wurde ich durch die Gedanken Anderer geführt, jetzt will ich für heute das Tagebuch mit einer eignen Betrachtung schließen, deren Gegenstand noch tiefer das Innerste berührt, und eine Frage verhandeln, deren nähere Beleuchtung Jeden interes- siren muß, wenn er auch eben so wenig wie ich ein Philosoph von Profession ist.
Was ist Gewissen?
Das Gewissen hat ohne Zweifel eine doppelte Na- tur, wie eine doppelte Quelle. Die eine fließt aus unserer höchsten Stärke, die andere aus unserer größ- ten Schwäche, die eine aus dem in uns wohnenden Geist Gottes, die andere aus sinnlicher Furcht. Beide wohl zu unterscheiden, ist für die Ruhe des Menschen nöthig, die nur aus möglichster Klarheit entspringt, denn der Mensch erlangt, wenn er aus dem ursprünglichen, gebieterischen Gefühlsinstinkt
verſenkte ihn zu häufig in Anfälle unbeſiegbarer Me- lancholie, wenn jede Illuſion verſchwand, und er die Menſchen, zu denen er mit gehörte, in aller Nackt- heit ihrer angebornen Gebrechlichkeit ſah.“
Ja, dieſe Schilderung iſt aus der Seele gegriffen, und eben ſo wahr iſt es, daß mit einer ſolchen Diſpo- ſition geboren, man in der umgebenden Welt ſich nur wohl fühlen kann, wenn man durch die Ver- hältniſſe ſehr — ſehr hoch über ſie geſtellt iſt, oder ganz unbemerkt in ihr lebt.
So weit wurde ich durch die Gedanken Anderer geführt, jetzt will ich für heute das Tagebuch mit einer eignen Betrachtung ſchließen, deren Gegenſtand noch tiefer das Innerſte berührt, und eine Frage verhandeln, deren nähere Beleuchtung Jeden intereſ- ſiren muß, wenn er auch eben ſo wenig wie ich ein Philoſoph von Profeſſion iſt.
Was iſt Gewiſſen?
Das Gewiſſen hat ohne Zweifel eine doppelte Na- tur, wie eine doppelte Quelle. Die eine fließt aus unſerer höchſten Stärke, die andere aus unſerer größ- ten Schwäche, die eine aus dem in uns wohnenden Geiſt Gottes, die andere aus ſinnlicher Furcht. Beide wohl zu unterſcheiden, iſt für die Ruhe des Menſchen nöthig, die nur aus möglichſter Klarheit entſpringt, denn der Menſch erlangt, wenn er aus dem urſprünglichen, gebieteriſchen Gefühlsinſtinkt
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verſenkte ihn zu häufig in Anfälle unbeſiegbarer Me-
lancholie, wenn jede Illuſion verſchwand, und er die
Menſchen, zu denen er mit gehörte, in aller Nackt-
heit ihrer angebornen Gebrechlichkeit ſah.“
Ja, dieſe Schilderung iſt aus der Seele gegriffen,
und eben ſo wahr iſt es, daß mit einer ſolchen Diſpo-
ſition geboren, man in der umgebenden Welt ſich
nur wohl fühlen kann, wenn man durch die Ver-
hältniſſe ſehr — ſehr hoch über ſie geſtellt iſt, oder
ganz unbemerkt in ihr lebt.
So weit wurde ich durch die Gedanken Anderer
geführt, jetzt will ich für heute das Tagebuch mit
einer eignen Betrachtung ſchließen, deren Gegenſtand
noch tiefer das Innerſte berührt, und eine Frage
verhandeln, deren nähere Beleuchtung Jeden intereſ-
ſiren muß, wenn er auch eben ſo wenig wie ich ein
Philoſoph von Profeſſion iſt.
Was iſt Gewiſſen?
Das Gewiſſen hat ohne Zweifel eine doppelte Na-
tur, wie eine doppelte Quelle. Die eine fließt aus
unſerer höchſten Stärke, die andere aus unſerer größ-
ten Schwäche, die eine aus dem in uns wohnenden
Geiſt Gottes, die andere aus ſinnlicher Furcht.
Beide wohl zu unterſcheiden, iſt für die Ruhe des
Menſchen nöthig, die nur aus möglichſter Klarheit
entſpringt, denn der Menſch erlangt, wenn er aus
dem urſprünglichen, gebieteriſchen Gefühlsinſtinkt
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/370>, abgerufen am 22.11.2024.
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