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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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um sechs Uhr. Steh auf, Velten, um sechs Uhr geht
der Zug. Der Zug geht um sechs Uhr und Du mußt
noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer schließt
nicht recht, Du mußt aufstehen, Velten, der Zug geht
um sechs Uhr. Du mußt Deine Reisetasche packen,
Velten. Junge, um sechs Uhr geht der Zug!"

"Seit gestern beschränkt sich hierauf ihre ganze
Vorstellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie
hat ihr schönes, heiteres Leben durch still gesessen;
nun ergreift auch sie die Unruhe. Wir Menschen in
ihrem jetzigen Zustande haben das dann und wann
so an uns, daß wir für uns oder Andere zur Reise
zusammenpacken lassen, oder selber zusammenpacken,
gerade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurück¬
gelegt ist. Tritt näher und setze Dich, Du störst sie
nicht durch Deinen Besuch."

"Armer Freund."

"Ja, so verflüchtigt sich auch dieses liebe Bild!"

"Aber Junge, Junge, Du versäumst den Zug,
wenn Du nicht aufstehst! Steh auf, Velten! Packe
Deinen Koffer, um sechs Uhr geht der Zug. Packe
Deine Reisetasche," klang es aus den Kissen der
Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohl¬
bekannte alte Freundin aus dem Vogelsang, Riekchen
Schellenbaum, meinte:

"Sie ist nur ein bißchen unruhig, die Frau

um ſechs Uhr. Steh auf, Velten, um ſechs Uhr geht
der Zug. Der Zug geht um ſechs Uhr und Du mußt
noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer ſchließt
nicht recht, Du mußt aufſtehen, Velten, der Zug geht
um ſechs Uhr. Du mußt Deine Reiſetaſche packen,
Velten. Junge, um ſechs Uhr geht der Zug!“

„Seit geſtern beſchränkt ſich hierauf ihre ganze
Vorſtellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie
hat ihr ſchönes, heiteres Leben durch ſtill geſeſſen;
nun ergreift auch ſie die Unruhe. Wir Menſchen in
ihrem jetzigen Zuſtande haben das dann und wann
ſo an uns, daß wir für uns oder Andere zur Reiſe
zuſammenpacken laſſen, oder ſelber zuſammenpacken,
gerade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurück¬
gelegt iſt. Tritt näher und ſetze Dich, Du ſtörſt ſie
nicht durch Deinen Beſuch.“

„Armer Freund.“

„Ja, ſo verflüchtigt ſich auch dieſes liebe Bild!“

„Aber Junge, Junge, Du verſäumſt den Zug,
wenn Du nicht aufſtehſt! Steh auf, Velten! Packe
Deinen Koffer, um ſechs Uhr geht der Zug. Packe
Deine Reiſetaſche,“ klang es aus den Kiſſen der
Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohl¬
bekannte alte Freundin aus dem Vogelſang, Riekchen
Schellenbaum, meinte:

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[247/0257] um ſechs Uhr. Steh auf, Velten, um ſechs Uhr geht der Zug. Der Zug geht um ſechs Uhr und Du mußt noch packen. Steh auf, Junge, der Koffer ſchließt nicht recht, Du mußt aufſtehen, Velten, der Zug geht um ſechs Uhr. Du mußt Deine Reiſetaſche packen, Velten. Junge, um ſechs Uhr geht der Zug!“ „Seit geſtern beſchränkt ſich hierauf ihre ganze Vorſtellungsfähigkeit und ihr Ausdrucksvermögen. Sie hat ihr ſchönes, heiteres Leben durch ſtill geſeſſen; nun ergreift auch ſie die Unruhe. Wir Menſchen in ihrem jetzigen Zuſtande haben das dann und wann ſo an uns, daß wir für uns oder Andere zur Reiſe zuſammenpacken laſſen, oder ſelber zuſammenpacken, gerade wenn die Fahrt zu Ende, der Weg zurück¬ gelegt iſt. Tritt näher und ſetze Dich, Du ſtörſt ſie nicht durch Deinen Beſuch.“ „Armer Freund.“ „Ja, ſo verflüchtigt ſich auch dieſes liebe Bild!“ „Aber Junge, Junge, Du verſäumſt den Zug, wenn Du nicht aufſtehſt! Steh auf, Velten! Packe Deinen Koffer, um ſechs Uhr geht der Zug. Packe Deine Reiſetaſche,“ klang es aus den Kiſſen der Sterbenden, und die Wärterin, eine mir auch wohl¬ bekannte alte Freundin aus dem Vogelſang, Riekchen Schellenbaum, meinte: „Sie iſt nur ein bißchen unruhig, die Frau

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/257>, abgerufen am 22.11.2024.