Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.wie sie da jetzt unter ihren Hügeln schlief, im Leben Kinder spielten jetzt nicht mehr an Mondschein¬ -- vor dem Thor lag eine Sphinx, Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten, Der Leib und die Tatzen wie ein Löw', Ein Weib an Haupt und Brüsten. Der Morgen nebelig und grau und regendrohend wie ſie da jetzt unter ihren Hügeln ſchlief, im Leben Kinder ſpielten jetzt nicht mehr an Mondſchein¬ — vor dem Thor lag eine Sphinx, Ein Zwitter von Schrecken und Lüſten, Der Leib und die Tatzen wie ein Löw', Ein Weib an Haupt und Brüſten. Der Morgen nebelig und grau und regendrohend <TEI> <text> <body> <p><pb facs="#f0263" n="253"/> wie ſie da jetzt unter ihren Hügeln ſchlief, im Leben<lb/> gekannt hatten. Und Manche kamen mehr oder weniger<lb/> ſcheu heran und gaben Velten und mir die Hand<lb/> und ſagten: „Das war eine liebe Frau, die Frau<lb/> Mutter und erſt der Herr Vater, der Herr Doktor,<lb/> Herr Velten! Bei uns Alten behalten ſie ihr An¬<lb/> denken, wie ſie jetzt da ſo bei einander liegen nach<lb/> Gottes Willen, und nun nehmen Sie es ſich nur<lb/> nicht zu viel zu Herzen, Herr Velten, Herr Andres!“</p><lb/> <p>Kinder ſpielten jetzt nicht mehr an Mondſchein¬<lb/> abenden auf dem Friedhofe des Vogelſangs. Es<lb/> war eine hohe, ſolide Mauer um ihn gezogen worden,<lb/> ein ſchweres, eiſernes Gitterthor ſperrte ihn ab und<lb/> eine ſtrenge Kirchhofsordnung regelte den Beſuch.<lb/> Und —</p><lb/> <lg type="poem"> <l>— vor dem Thor lag eine Sphinx,</l><lb/> <l>Ein Zwitter von Schrecken und Lüſten,</l><lb/> <l>Der Leib und die Tatzen wie ein Löw',</l><lb/> <l>Ein Weib an Haupt und Brüſten.</l><lb/> </lg> <p>Der Morgen nebelig und grau und regendrohend<lb/> — der erſte Herbſttag des Jahres — werde ich je<lb/> einen Leſer haben, kann ich ihn auf eine Seite zu<lb/> Anfang dieſes Aktenkonvoluts verweiſen, wo die<lb/> Sphinx auch auf dem Kirchhofe des Vogelſangs nur<lb/> vor dem mondbeglänzten, romantiſchen Zauberſchloß des<lb/> Daſeins lag, nicht vor dem Leben ſelbſt, vor Beth-<lb/> Chaim, dem „Hauſe des Lebens“.</p><lb/> </body> </text> </TEI> [253/0263]
wie ſie da jetzt unter ihren Hügeln ſchlief, im Leben
gekannt hatten. Und Manche kamen mehr oder weniger
ſcheu heran und gaben Velten und mir die Hand
und ſagten: „Das war eine liebe Frau, die Frau
Mutter und erſt der Herr Vater, der Herr Doktor,
Herr Velten! Bei uns Alten behalten ſie ihr An¬
denken, wie ſie jetzt da ſo bei einander liegen nach
Gottes Willen, und nun nehmen Sie es ſich nur
nicht zu viel zu Herzen, Herr Velten, Herr Andres!“
Kinder ſpielten jetzt nicht mehr an Mondſchein¬
abenden auf dem Friedhofe des Vogelſangs. Es
war eine hohe, ſolide Mauer um ihn gezogen worden,
ein ſchweres, eiſernes Gitterthor ſperrte ihn ab und
eine ſtrenge Kirchhofsordnung regelte den Beſuch.
Und —
— vor dem Thor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüſten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw',
Ein Weib an Haupt und Brüſten.
Der Morgen nebelig und grau und regendrohend
— der erſte Herbſttag des Jahres — werde ich je
einen Leſer haben, kann ich ihn auf eine Seite zu
Anfang dieſes Aktenkonvoluts verweiſen, wo die
Sphinx auch auf dem Kirchhofe des Vogelſangs nur
vor dem mondbeglänzten, romantiſchen Zauberſchloß des
Daſeins lag, nicht vor dem Leben ſelbſt, vor Beth-
Chaim, dem „Hauſe des Lebens“.
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