Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

lieblicher und länger als alle Genossen; aber sie sang ihren Schmerz und zog auch nicht von dannen mit den Freunden; ein Aederlein zersprang ihr in der armen, kleinen, klagenden Brust, und so mußte sie sterben, ehe der Herbst und die Zeit der großen Reise in die weite Welt kam. Ueber alle Maßen verwildert war der Garten der Silberburg; Gezweig der Bäume und Gerank der Büsche verschlangen sich ineinander; überwuchert waren alle Beete und Wege. Die Rosen, welche in ihren glücklichen, stolzen Jugendtagen die Mutter des schwarzen Georg gepflanzt und gepflegt hatte, hatten nun aus einem großen Theil des Gartens eine dornige, gefahrvolle Wildniß gemacht, kaum zu durchdringen ohne Messer und Handbeil.

Die Gestalt, welche aus dem Hause Christian Heyliger's schlüpfte, wagte sich aber doch hinein in diese duftige Wildniß. Sie wendete und neigte sich zwischen dem Gezweig und verschwand in dem dunkelsten Schatten, welchen der Mond an diesem Abend im Garten der Silberburg duldete.

Da war eine alte Steinbank, umschlungen und umrankt wie alles Andere, darauf saß Laurentia Heyligerin nieder, die wonnige Kühle des Abends athmend, die Hände im Schooß faltend -- still wartend.

Mehr einer Bildsäule des Nachsinnens als einem Menschenwesen glich so die Jungfrau. Ihr schönes Gesicht war nicht nur im Mondenschein bleich, es war so auch im Licht des Tages; der Glanz der Nacht ver-

lieblicher und länger als alle Genossen; aber sie sang ihren Schmerz und zog auch nicht von dannen mit den Freunden; ein Aederlein zersprang ihr in der armen, kleinen, klagenden Brust, und so mußte sie sterben, ehe der Herbst und die Zeit der großen Reise in die weite Welt kam. Ueber alle Maßen verwildert war der Garten der Silberburg; Gezweig der Bäume und Gerank der Büsche verschlangen sich ineinander; überwuchert waren alle Beete und Wege. Die Rosen, welche in ihren glücklichen, stolzen Jugendtagen die Mutter des schwarzen Georg gepflanzt und gepflegt hatte, hatten nun aus einem großen Theil des Gartens eine dornige, gefahrvolle Wildniß gemacht, kaum zu durchdringen ohne Messer und Handbeil.

Die Gestalt, welche aus dem Hause Christian Heyliger's schlüpfte, wagte sich aber doch hinein in diese duftige Wildniß. Sie wendete und neigte sich zwischen dem Gezweig und verschwand in dem dunkelsten Schatten, welchen der Mond an diesem Abend im Garten der Silberburg duldete.

Da war eine alte Steinbank, umschlungen und umrankt wie alles Andere, darauf saß Laurentia Heyligerin nieder, die wonnige Kühle des Abends athmend, die Hände im Schooß faltend — still wartend.

Mehr einer Bildsäule des Nachsinnens als einem Menschenwesen glich so die Jungfrau. Ihr schönes Gesicht war nicht nur im Mondenschein bleich, es war so auch im Licht des Tages; der Glanz der Nacht ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="4">
        <p><pb facs="#f0035"/>
lieblicher und länger als      alle Genossen; aber sie sang ihren Schmerz und zog auch nicht von dannen mit den Freunden; ein      Aederlein zersprang ihr in der armen, kleinen, klagenden Brust, und so mußte sie sterben, ehe      der Herbst und die Zeit der großen Reise in die weite Welt kam. Ueber alle Maßen verwildert war      der Garten der Silberburg; Gezweig der Bäume und Gerank der Büsche verschlangen sich      ineinander; überwuchert waren alle Beete und Wege. Die Rosen, welche in ihren glücklichen,      stolzen Jugendtagen die Mutter des schwarzen Georg gepflanzt und gepflegt hatte, hatten nun aus      einem großen Theil des Gartens eine dornige, gefahrvolle Wildniß gemacht, kaum zu durchdringen      ohne Messer und Handbeil.</p><lb/>
        <p>Die Gestalt, welche aus dem Hause Christian Heyliger's schlüpfte, wagte sich aber doch hinein      in diese duftige Wildniß. Sie wendete und neigte sich zwischen dem Gezweig und verschwand in      dem dunkelsten Schatten, welchen der Mond an diesem Abend im Garten der Silberburg duldete.</p><lb/>
        <p>Da war eine alte Steinbank, umschlungen und umrankt wie alles Andere, darauf saß Laurentia      Heyligerin nieder, die wonnige Kühle des Abends athmend, die Hände im Schooß faltend &#x2014; still      wartend.</p><lb/>
        <p>Mehr einer Bildsäule des Nachsinnens als einem Menschenwesen glich so die Jungfrau. Ihr      schönes Gesicht war nicht nur im Mondenschein bleich, es war so auch im Licht des Tages; der      Glanz der Nacht ver-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0035] lieblicher und länger als alle Genossen; aber sie sang ihren Schmerz und zog auch nicht von dannen mit den Freunden; ein Aederlein zersprang ihr in der armen, kleinen, klagenden Brust, und so mußte sie sterben, ehe der Herbst und die Zeit der großen Reise in die weite Welt kam. Ueber alle Maßen verwildert war der Garten der Silberburg; Gezweig der Bäume und Gerank der Büsche verschlangen sich ineinander; überwuchert waren alle Beete und Wege. Die Rosen, welche in ihren glücklichen, stolzen Jugendtagen die Mutter des schwarzen Georg gepflanzt und gepflegt hatte, hatten nun aus einem großen Theil des Gartens eine dornige, gefahrvolle Wildniß gemacht, kaum zu durchdringen ohne Messer und Handbeil. Die Gestalt, welche aus dem Hause Christian Heyliger's schlüpfte, wagte sich aber doch hinein in diese duftige Wildniß. Sie wendete und neigte sich zwischen dem Gezweig und verschwand in dem dunkelsten Schatten, welchen der Mond an diesem Abend im Garten der Silberburg duldete. Da war eine alte Steinbank, umschlungen und umrankt wie alles Andere, darauf saß Laurentia Heyligerin nieder, die wonnige Kühle des Abends athmend, die Hände im Schooß faltend — still wartend. Mehr einer Bildsäule des Nachsinnens als einem Menschenwesen glich so die Jungfrau. Ihr schönes Gesicht war nicht nur im Mondenschein bleich, es war so auch im Licht des Tages; der Glanz der Nacht ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T09:56:25Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-23T09:56:25Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910/35
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910/35>, abgerufen am 28.04.2024.