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Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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klärte die Bleiche, daß sie dem reinsten Marmor gleich wurde.

Mit gesenktem Haupt und halbgeschlossenen Augen saß Laurentia, bis der Wächter vor der Silberburg die zehnte Stunde verkündete und sang:

"Nacht und Tag, Tag und Nacht Gottes Aug' im Himmel wacht; Hört, ihr Herren, hört, ihr Frau'n, Gut Gewissen wird nicht grauen In der Nacht."

Da hob sich das schöne Gesicht dem Monde zu mit ganz verändertem Ausdruck. An die Stelle träumerischer Mattigkeit war das aufmerksamste Lauschen in den Zügen zu lesen. Seitwärts neigte sich das Köpfchen, der Römerhöhe zu; immer lauter sang die Nachtigall, und Niemand konnte wissen, daß es nicht das Lob der Nacht war, was sie sang. Es rauschte in den Büschen; aber nicht der Wind brachte dieses Rauschen hervor. Die Jungfrau erhob sich halb von ihrem Sitze; eine Hand bog dicht neben der moosigen Steinbank die Zweige zurück, aus dem Dunkel hervor trat Georg, der schwarze Georg.

Gelobt sei Jesus Christ! sprach er.

In Ewigkeit, Amen! flüsterte die Jungfrau, und dann küßten sie sich, und Georg umschlang den Leib des Mädchens mit seinem gesunden Arm, und fest klammerte sich Laurentia an die treue Brust.

Lieb -- flüsterte Georg, doch die Jungfrau unterbrach ihn sogleich im Drang ihres übervollen, überströmenden Herzens.

klärte die Bleiche, daß sie dem reinsten Marmor gleich wurde.

Mit gesenktem Haupt und halbgeschlossenen Augen saß Laurentia, bis der Wächter vor der Silberburg die zehnte Stunde verkündete und sang:

“Nacht und Tag, Tag und Nacht Gottes Aug' im Himmel wacht; Hört, ihr Herren, hört, ihr Frau'n, Gut Gewissen wird nicht grauen In der Nacht.“

Da hob sich das schöne Gesicht dem Monde zu mit ganz verändertem Ausdruck. An die Stelle träumerischer Mattigkeit war das aufmerksamste Lauschen in den Zügen zu lesen. Seitwärts neigte sich das Köpfchen, der Römerhöhe zu; immer lauter sang die Nachtigall, und Niemand konnte wissen, daß es nicht das Lob der Nacht war, was sie sang. Es rauschte in den Büschen; aber nicht der Wind brachte dieses Rauschen hervor. Die Jungfrau erhob sich halb von ihrem Sitze; eine Hand bog dicht neben der moosigen Steinbank die Zweige zurück, aus dem Dunkel hervor trat Georg, der schwarze Georg.

Gelobt sei Jesus Christ! sprach er.

In Ewigkeit, Amen! flüsterte die Jungfrau, und dann küßten sie sich, und Georg umschlang den Leib des Mädchens mit seinem gesunden Arm, und fest klammerte sich Laurentia an die treue Brust.

Lieb — flüsterte Georg, doch die Jungfrau unterbrach ihn sogleich im Drang ihres übervollen, überströmenden Herzens.

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[0036] klärte die Bleiche, daß sie dem reinsten Marmor gleich wurde. Mit gesenktem Haupt und halbgeschlossenen Augen saß Laurentia, bis der Wächter vor der Silberburg die zehnte Stunde verkündete und sang: “Nacht und Tag, Tag und Nacht Gottes Aug' im Himmel wacht; Hört, ihr Herren, hört, ihr Frau'n, Gut Gewissen wird nicht grauen In der Nacht.“ Da hob sich das schöne Gesicht dem Monde zu mit ganz verändertem Ausdruck. An die Stelle träumerischer Mattigkeit war das aufmerksamste Lauschen in den Zügen zu lesen. Seitwärts neigte sich das Köpfchen, der Römerhöhe zu; immer lauter sang die Nachtigall, und Niemand konnte wissen, daß es nicht das Lob der Nacht war, was sie sang. Es rauschte in den Büschen; aber nicht der Wind brachte dieses Rauschen hervor. Die Jungfrau erhob sich halb von ihrem Sitze; eine Hand bog dicht neben der moosigen Steinbank die Zweige zurück, aus dem Dunkel hervor trat Georg, der schwarze Georg. Gelobt sei Jesus Christ! sprach er. In Ewigkeit, Amen! flüsterte die Jungfrau, und dann küßten sie sich, und Georg umschlang den Leib des Mädchens mit seinem gesunden Arm, und fest klammerte sich Laurentia an die treue Brust. Lieb — flüsterte Georg, doch die Jungfrau unterbrach ihn sogleich im Drang ihres übervollen, überströmenden Herzens.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T09:56:25Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910/36>, abgerufen am 28.04.2024.