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Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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stalt des Vaters, eine Kiste unter dem Arm tragend, eine Laterne in der Hand, die Bodentreppe hinaufsteigen. In demselben Augenblick blies ihr der Wind die Lampe aus, und ein neues, gewaltiges Aufwüthen der Windsbraut trieb das zitternde Mädchen zurück zu ihrem Bett. Die Decke zog Laurentia über den Kopf, die Augen schloß sie fest und versuchte es, andere helfende Geister gegen die namenlose Angst ihrer Seele heraufzurufen. Sie rief die erste Begegnung mit Georg nach dessen Rückkehr aus dem Franzosenkriege vor die erregte Phantasie zurück. Sie dachte an die süßen Sommerabende, welche sie mit dem Geliebten Arm in Arm in dem wilden Garten auf der bemoosten Steinbank unter der Rosenwildniß zugebracht hatte, während das Mondlicht wie aus einer silbernen Schale über die stille Welt ausgegossen wurde. Auf den kleinsten Einzelheiten dieser Augenblicke des Aufathmens zwang die Jungfrau ihren Geist zu verweilen, und dadurch überwand sie zuletzt alle Schrecken der Finsterniß. Der Sturm mochte sein Aergstes an der Silberburg versuchen; Laurentia Heyligerin schlief ein mit einem Lächeln auf den Lippen, und als sie erwachte, war es heller Tag; die Sonne schien glänzend in das Fenster, und die Langschläferin mochte den Orkan der Nacht für einen der bösen Träume nehmen, von denen sie oft geängstigt wurde. Die Welt stand noch, und das alte Haus stand ebenfalls noch. War all das Getöse der Nacht wirklich nur ein Traum gewesen? War es nur ein Spiel der Phantasie gewesen? Es konnte

stalt des Vaters, eine Kiste unter dem Arm tragend, eine Laterne in der Hand, die Bodentreppe hinaufsteigen. In demselben Augenblick blies ihr der Wind die Lampe aus, und ein neues, gewaltiges Aufwüthen der Windsbraut trieb das zitternde Mädchen zurück zu ihrem Bett. Die Decke zog Laurentia über den Kopf, die Augen schloß sie fest und versuchte es, andere helfende Geister gegen die namenlose Angst ihrer Seele heraufzurufen. Sie rief die erste Begegnung mit Georg nach dessen Rückkehr aus dem Franzosenkriege vor die erregte Phantasie zurück. Sie dachte an die süßen Sommerabende, welche sie mit dem Geliebten Arm in Arm in dem wilden Garten auf der bemoosten Steinbank unter der Rosenwildniß zugebracht hatte, während das Mondlicht wie aus einer silbernen Schale über die stille Welt ausgegossen wurde. Auf den kleinsten Einzelheiten dieser Augenblicke des Aufathmens zwang die Jungfrau ihren Geist zu verweilen, und dadurch überwand sie zuletzt alle Schrecken der Finsterniß. Der Sturm mochte sein Aergstes an der Silberburg versuchen; Laurentia Heyligerin schlief ein mit einem Lächeln auf den Lippen, und als sie erwachte, war es heller Tag; die Sonne schien glänzend in das Fenster, und die Langschläferin mochte den Orkan der Nacht für einen der bösen Träume nehmen, von denen sie oft geängstigt wurde. Die Welt stand noch, und das alte Haus stand ebenfalls noch. War all das Getöse der Nacht wirklich nur ein Traum gewesen? War es nur ein Spiel der Phantasie gewesen? Es konnte

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[0053] stalt des Vaters, eine Kiste unter dem Arm tragend, eine Laterne in der Hand, die Bodentreppe hinaufsteigen. In demselben Augenblick blies ihr der Wind die Lampe aus, und ein neues, gewaltiges Aufwüthen der Windsbraut trieb das zitternde Mädchen zurück zu ihrem Bett. Die Decke zog Laurentia über den Kopf, die Augen schloß sie fest und versuchte es, andere helfende Geister gegen die namenlose Angst ihrer Seele heraufzurufen. Sie rief die erste Begegnung mit Georg nach dessen Rückkehr aus dem Franzosenkriege vor die erregte Phantasie zurück. Sie dachte an die süßen Sommerabende, welche sie mit dem Geliebten Arm in Arm in dem wilden Garten auf der bemoosten Steinbank unter der Rosenwildniß zugebracht hatte, während das Mondlicht wie aus einer silbernen Schale über die stille Welt ausgegossen wurde. Auf den kleinsten Einzelheiten dieser Augenblicke des Aufathmens zwang die Jungfrau ihren Geist zu verweilen, und dadurch überwand sie zuletzt alle Schrecken der Finsterniß. Der Sturm mochte sein Aergstes an der Silberburg versuchen; Laurentia Heyligerin schlief ein mit einem Lächeln auf den Lippen, und als sie erwachte, war es heller Tag; die Sonne schien glänzend in das Fenster, und die Langschläferin mochte den Orkan der Nacht für einen der bösen Träume nehmen, von denen sie oft geängstigt wurde. Die Welt stand noch, und das alte Haus stand ebenfalls noch. War all das Getöse der Nacht wirklich nur ein Traum gewesen? War es nur ein Spiel der Phantasie gewesen? Es konnte

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-23T09:56:25Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-23T09:56:25Z)

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_recht_1910/53>, abgerufen am 10.05.2024.