Raabe, Wilhelm: Das letzte Recht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Peter Kurz. Bd. 21. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 205–280. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Berge liegen sah, halbversteckt durch Weinranken und Obstbäume, so hätte man es wirklich nicht für möglich halten sollen, daß es so viel Unglück, Haß, Zwietracht und tollen, blindwüthigen Ehrgeiz und Geiz in der Welt geben konnte. Es war leider aber doch damit also bestellt, und Eigennutz, Haß, Streit und Neid gab es nicht nur zwischen den grausam hohen Potentaten, zwischen Kaiser und Reich, der Königin von England, den hochmögenden Generalstaaten und dem allerchristlichsten König: auch in den engen, morschen Mauern der kleinen Reichsstadt gingen dieselben bösen Geister um und schufen Wirrsal und Trübsal. Zwischen zwei Bergen, die ziemlich schroff gegen die Ebene hin abfielen, lag, wie gesagt, die kaiserliche freie Reichsstadt Rothenburg. Auf der äußersten Bergspitze zur Linken, auf der Römerschanze stand ein alter Wartthurm, der "Lug ins Land", höchst wahrscheinlich auf römischem Fundament; gegenüber auf dem Vorsprung des Herrenberges lag die Scharfrichterei, und zwischen dieser und dem Wartthurm lief im Thal unten die Stadt gegen das Römerthor zu aus. Dicht neben dem Römerthor an einem kleinen freien Platz stand ein altes, dunkles, einst jedenfalls sehr stattliches Gebäude, welches sich jetzt aber im höchsten Verfall befand. "Zur Silberburg" wurde es genannt, und um die Silberburg, die Scharfrichterei und den Lug ins Land streift auf Eulenflügeln unsere Geschichte. In der Silberburg wohnte im Jahre 1704 Christian Berge liegen sah, halbversteckt durch Weinranken und Obstbäume, so hätte man es wirklich nicht für möglich halten sollen, daß es so viel Unglück, Haß, Zwietracht und tollen, blindwüthigen Ehrgeiz und Geiz in der Welt geben konnte. Es war leider aber doch damit also bestellt, und Eigennutz, Haß, Streit und Neid gab es nicht nur zwischen den grausam hohen Potentaten, zwischen Kaiser und Reich, der Königin von England, den hochmögenden Generalstaaten und dem allerchristlichsten König: auch in den engen, morschen Mauern der kleinen Reichsstadt gingen dieselben bösen Geister um und schufen Wirrsal und Trübsal. Zwischen zwei Bergen, die ziemlich schroff gegen die Ebene hin abfielen, lag, wie gesagt, die kaiserliche freie Reichsstadt Rothenburg. Auf der äußersten Bergspitze zur Linken, auf der Römerschanze stand ein alter Wartthurm, der “Lug ins Land“, höchst wahrscheinlich auf römischem Fundament; gegenüber auf dem Vorsprung des Herrenberges lag die Scharfrichterei, und zwischen dieser und dem Wartthurm lief im Thal unten die Stadt gegen das Römerthor zu aus. Dicht neben dem Römerthor an einem kleinen freien Platz stand ein altes, dunkles, einst jedenfalls sehr stattliches Gebäude, welches sich jetzt aber im höchsten Verfall befand. “Zur Silberburg“ wurde es genannt, und um die Silberburg, die Scharfrichterei und den Lug ins Land streift auf Eulenflügeln unsere Geschichte. In der Silberburg wohnte im Jahre 1704 Christian <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> Berge liegen sah, halbversteckt durch Weinranken und Obstbäume, so hätte man es wirklich nicht für möglich halten sollen, daß es so viel Unglück, Haß, Zwietracht und tollen, blindwüthigen Ehrgeiz und Geiz in der Welt geben konnte. Es war leider aber doch damit also bestellt, und Eigennutz, Haß, Streit und Neid gab es nicht nur zwischen den grausam hohen Potentaten, zwischen Kaiser und Reich, der Königin von England, den hochmögenden Generalstaaten und dem allerchristlichsten König: auch in den engen, morschen Mauern der kleinen Reichsstadt gingen dieselben bösen Geister um und schufen Wirrsal und Trübsal.</p><lb/> <p>Zwischen zwei Bergen, die ziemlich schroff gegen die Ebene hin abfielen, lag, wie gesagt, die kaiserliche freie Reichsstadt Rothenburg. Auf der äußersten Bergspitze zur Linken, auf der Römerschanze stand ein alter Wartthurm, der “Lug ins Land“, höchst wahrscheinlich auf römischem Fundament; gegenüber auf dem Vorsprung des Herrenberges lag die Scharfrichterei, und zwischen dieser und dem Wartthurm lief im Thal unten die Stadt gegen das Römerthor zu aus. Dicht neben dem Römerthor an einem kleinen freien Platz stand ein altes, dunkles, einst jedenfalls sehr stattliches Gebäude, welches sich jetzt aber im höchsten Verfall befand. “Zur Silberburg“ wurde es genannt, und um die Silberburg, die Scharfrichterei und den Lug ins Land streift auf Eulenflügeln unsere Geschichte.</p><lb/> <p>In der Silberburg wohnte im Jahre 1704 Christian<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Berge liegen sah, halbversteckt durch Weinranken und Obstbäume, so hätte man es wirklich nicht für möglich halten sollen, daß es so viel Unglück, Haß, Zwietracht und tollen, blindwüthigen Ehrgeiz und Geiz in der Welt geben konnte. Es war leider aber doch damit also bestellt, und Eigennutz, Haß, Streit und Neid gab es nicht nur zwischen den grausam hohen Potentaten, zwischen Kaiser und Reich, der Königin von England, den hochmögenden Generalstaaten und dem allerchristlichsten König: auch in den engen, morschen Mauern der kleinen Reichsstadt gingen dieselben bösen Geister um und schufen Wirrsal und Trübsal.
Zwischen zwei Bergen, die ziemlich schroff gegen die Ebene hin abfielen, lag, wie gesagt, die kaiserliche freie Reichsstadt Rothenburg. Auf der äußersten Bergspitze zur Linken, auf der Römerschanze stand ein alter Wartthurm, der “Lug ins Land“, höchst wahrscheinlich auf römischem Fundament; gegenüber auf dem Vorsprung des Herrenberges lag die Scharfrichterei, und zwischen dieser und dem Wartthurm lief im Thal unten die Stadt gegen das Römerthor zu aus. Dicht neben dem Römerthor an einem kleinen freien Platz stand ein altes, dunkles, einst jedenfalls sehr stattliches Gebäude, welches sich jetzt aber im höchsten Verfall befand. “Zur Silberburg“ wurde es genannt, und um die Silberburg, die Scharfrichterei und den Lug ins Land streift auf Eulenflügeln unsere Geschichte.
In der Silberburg wohnte im Jahre 1704 Christian
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