Jahre alt ist mein Kind jetzt in den Blättern der Chronik. Das runde Gesichtchen zieht sich schon mehr und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand so lieblich macht; aus Lischens Kinderstimme klingt mir nun oftmals, -- wenn sie sich wundert, sich freut oder klagt -- ein Ton entgegen, der mich fast er- schreckt auffahren läßt. Es ist derselbe Ausruf, den sie an sich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines Herz? Diesen Ton, den ich für ewig verklungen hielt und welcher jetzt nach so langen Jahren wieder frisch und lebendig wird? --
Weine nicht mehr, Lischen, sieh', ich will Dich an ernstere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinsetzen unter die blühenden Rosen- büsche und denken, daß die Welt so groß, so unendlich groß sei -- und doch Nichts verloren gehe! Da wollen wir auch dem todten Vogel sein kleines Grab graben und uns vorstellen, daß im nächsten Frühlinge aus sei- nem kleinen Leibe eine hübsche, goldgelbe Blume auf- sprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet- terlings und des großen, ewigen Gottes! --
Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtasche, Lischen (wenn du es heute vielleicht auch verschenken wirst) -- gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder! Du kannst ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der Chronik. Das runde Geſichtchen zieht ſich ſchon mehr und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand ſo lieblich macht; aus Lischens Kinderſtimme klingt mir nun oftmals, — wenn ſie ſich wundert, ſich freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich faſt er- ſchreckt auffahren läßt. Es iſt derſelbe Ausruf, den ſie an ſich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines Herz? Dieſen Ton, den ich für ewig verklungen hielt und welcher jetzt nach ſo langen Jahren wieder friſch und lebendig wird? —
Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an ernſtere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinſetzen unter die blühenden Roſen- büſche und denken, daß die Welt ſo groß, ſo unendlich groß ſei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen wir auch dem todten Vogel ſein kleines Grab graben und uns vorſtellen, daß im nächſten Frühlinge aus ſei- nem kleinen Leibe eine hübſche, goldgelbe Blume auf- ſprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet- terlings und des großen, ewigen Gottes! —
Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen (wenn du es heute vielleicht auch verſchenken wirſt) — gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder! Du kannſt ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
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Jahre alt iſt mein Kind jetzt in den Blättern der
Chronik. Das runde Geſichtchen zieht ſich ſchon mehr
und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an
der Wand ſo lieblich macht; aus Lischens Kinderſtimme
klingt mir nun oftmals, — wenn ſie ſich wundert, ſich
freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich faſt er-
ſchreckt auffahren läßt. Es iſt derſelbe Ausruf, den
ſie an ſich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines
Herz? Dieſen Ton, den ich für ewig verklungen hielt
und welcher jetzt nach ſo langen Jahren wieder friſch
und lebendig wird? —
Weine nicht mehr, Lischen, ſieh’, ich will Dich an
ernſtere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da
wollen wir uns hinſetzen unter die blühenden Roſen-
büſche und denken, daß die Welt ſo groß, ſo unendlich
groß ſei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen
wir auch dem todten Vogel ſein kleines Grab graben
und uns vorſtellen, daß im nächſten Frühlinge aus ſei-
nem kleinen Leibe eine hübſche, goldgelbe Blume auf-
ſprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet-
terlings und des großen, ewigen Gottes! —
Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtaſche, Lischen
(wenn du es heute vielleicht auch verſchenken wirſt) —
gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder!
Du kannſt ihn auch fragen, ob er nicht morgen am
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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/104>, abgerufen am 16.02.2025.
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