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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere
Gestalt sitzt. Was haben die Beiden so heimlich, so
leise sich zuzuraunen, was haben sie zu kichern? Ein
Garnknäuel, das von Lischen's Nähtisch fällt und über den
Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine sich schlingt;
ein verirrter Nachtschmetterling, eine vorbeischießende Fle-
dermaus, ein Ball, der von der Straße in's Zimmer
fliegt, und über dessen Herausgabe Gustav mit dem un-
vorsichtigen Besitzer kapitulirt alles, alles wird in die-
ser Mondscheindämmerung zu einem Märchen, zu einem
Traum. Ist nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen;
ist nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des
Traums? --

"Liebe kleine Elise!" flüstert Gustav, in das mond-
beglänzte zu ihm sich herabbeugende Gesicht schauend.

"Lieber großer Junge!" lächelt Elise, indem sie dem
vormaligen Taugenichts der Gasse die Locken aus
der Stirn streicht. Sie sagen einander weiter nichts,
aber diese abgebrochenen Worte enthalten Alles, was
das Menschenherz in seinen heiligsten Augenblicken
bewegt.

"Ich liebe Dich so!" flüstert Gustav wieder, worauf
Elise nichts erwidert, sondern den Kopf in die Blätter
ihres Epheu's verbirgt. Der Mond kann sich in diesem
Augenblick wahrscheinlich in einem flimmernden Perlen-

auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere
Geſtalt ſitzt. Was haben die Beiden ſo heimlich, ſo
leiſe ſich zuzuraunen, was haben ſie zu kichern? Ein
Garnknäuel, das von Lischen’s Nähtiſch fällt und über den
Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine ſich ſchlingt;
ein verirrter Nachtſchmetterling, eine vorbeiſchießende Fle-
dermaus, ein Ball, der von der Straße in’s Zimmer
fliegt, und über deſſen Herausgabe Guſtav mit dem un-
vorſichtigen Beſitzer kapitulirt alles, alles wird in die-
ſer Mondſcheindämmerung zu einem Märchen, zu einem
Traum. Iſt nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen;
iſt nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des
Traums? —

„Liebe kleine Eliſe!“ flüſtert Guſtav, in das mond-
beglänzte zu ihm ſich herabbeugende Geſicht ſchauend.

„Lieber großer Junge!“ lächelt Eliſe, indem ſie dem
vormaligen Taugenichts der Gaſſe die Locken aus
der Stirn ſtreicht. Sie ſagen einander weiter nichts,
aber dieſe abgebrochenen Worte enthalten Alles, was
das Menſchenherz in ſeinen heiligſten Augenblicken
bewegt.

„Ich liebe Dich ſo!“ flüſtert Guſtav wieder, worauf
Eliſe nichts erwidert, ſondern den Kopf in die Blätter
ihres Epheu’s verbirgt. Der Mond kann ſich in dieſem
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[231/0241] auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere Geſtalt ſitzt. Was haben die Beiden ſo heimlich, ſo leiſe ſich zuzuraunen, was haben ſie zu kichern? Ein Garnknäuel, das von Lischen’s Nähtiſch fällt und über den Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine ſich ſchlingt; ein verirrter Nachtſchmetterling, eine vorbeiſchießende Fle- dermaus, ein Ball, der von der Straße in’s Zimmer fliegt, und über deſſen Herausgabe Guſtav mit dem un- vorſichtigen Beſitzer kapitulirt alles, alles wird in die- ſer Mondſcheindämmerung zu einem Märchen, zu einem Traum. Iſt nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen; iſt nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des Traums? — „Liebe kleine Eliſe!“ flüſtert Guſtav, in das mond- beglänzte zu ihm ſich herabbeugende Geſicht ſchauend. „Lieber großer Junge!“ lächelt Eliſe, indem ſie dem vormaligen Taugenichts der Gaſſe die Locken aus der Stirn ſtreicht. Sie ſagen einander weiter nichts, aber dieſe abgebrochenen Worte enthalten Alles, was das Menſchenherz in ſeinen heiligſten Augenblicken bewegt. „Ich liebe Dich ſo!“ flüſtert Guſtav wieder, worauf Eliſe nichts erwidert, ſondern den Kopf in die Blätter ihres Epheu’s verbirgt. Der Mond kann ſich in dieſem Augenblick wahrſcheinlich in einem flimmernden Perlen-

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/241>, abgerufen am 21.11.2024.