Frühling, nicht blühender Sommer, sondern eine stür- mische, dunkle Herbstnacht; -- vielleicht wird eine ähn- liche auf den heutigen Tag folgen. -- In dieser Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als vier- eckigen Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken? Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dach- ziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der Außenwelt abzusperren vor dem Fensterkreuz fest- genagelt hat, -- kurz geberdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich geberden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Ge- danken versunken dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf, und dreht mir das Gesicht zu, -- -- -- das bin ich wieder. -- Johannes Wachholder, ein Student der Phi- losophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen Schritten, als das enge, wun- derlich ausstaffirte Gemach nur erlaubt, rennt er auf und ab.
Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisirten Vorhang herunter und läßt einen präch-
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Frühling, nicht blühender Sommer, ſondern eine ſtür- miſche, dunkle Herbſtnacht; — vielleicht wird eine ähn- liche auf den heutigen Tag folgen. — In dieſer Nacht ſitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als vier- eckigen Dachſtübchen ein Student vor einem gewaltigen ſchweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegſtarrt. Wo wandern ſeine Gedanken? Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dach- ziegeln, ſchüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der erfinderiſche Muſenſohn, um ſich und ſeine Studien ganz von der Außenwelt abzuſperren vor dem Fenſterkreuz feſt- genagelt hat, — kurz geberdet ſich ſo unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, ſich geberden kann. Lange hat der Muſenſohn in tiefe Ge- danken verſunken dageſeſſen; jetzt ſpringt er plötzlich auf, und dreht mir das Geſicht zu, — — — das bin ich wieder. — Johannes Wachholder, ein Student der Phi- loſophie in der großen Haupt- und Univerſitätsſtadt. Sehr aufgeregt ſcheint der Doppelgänger meiner Jugend zu ſein; mit ſo gewaltigen Schritten, als das enge, wun- derlich ausſtaffirte Gemach nur erlaubt, rennt er auf und ab.
Plötzlich ſpringt er auf das Fenſter zu, reißt den improviſirten Vorhang herunter und läßt einen präch-
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Frühling, nicht blühender Sommer, ſondern eine ſtür-
miſche, dunkle Herbſtnacht; — vielleicht wird eine ähn-
liche auf den heutigen Tag folgen. — In dieſer Nacht
ſitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als vier-
eckigen Dachſtübchen ein Student vor einem gewaltigen
ſchweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegſtarrt.
Wo wandern ſeine Gedanken? Draußen jagt der Wind
die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dach-
ziegeln, ſchüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der
erfinderiſche Muſenſohn, um ſich und ſeine Studien ganz
von der Außenwelt abzuſperren vor dem Fenſterkreuz feſt-
genagelt hat, — kurz geberdet ſich ſo unbändig, wie
nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von
den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, ſich
geberden kann. Lange hat der Muſenſohn in tiefe Ge-
danken verſunken dageſeſſen; jetzt ſpringt er plötzlich auf,
und dreht mir das Geſicht zu, — — — das bin ich
wieder. — Johannes Wachholder, ein Student der Phi-
loſophie in der großen Haupt- und Univerſitätsſtadt.
Sehr aufgeregt ſcheint der Doppelgänger meiner Jugend
zu ſein; mit ſo gewaltigen Schritten, als das enge, wun-
derlich ausſtaffirte Gemach nur erlaubt, rennt er auf
und ab.
Plötzlich ſpringt er auf das Fenſter zu, reißt den
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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/27>, abgerufen am 16.07.2024.
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