Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.tigen Mondenstrahl, der in diesem Augenblick durch die "Marie! Marie!" flüstert mein Schattenbild leise, Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten un- "Ich liebe Dich," flüstert mein Schattenbild, "ich tigen Mondenſtrahl, der in dieſem Augenblick durch die „Marie! Marie!“ flüſtert mein Schattenbild leiſe, Es iſt eine gefährliche Sache, in den Momenten un- „Ich liebe Dich,“ flüſtert mein Schattenbild, „ich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0028" n="18"/> tigen Mondenſtrahl, der in dieſem Augenblick durch die<lb/> zerriſſenen Wolken fällt, hinein. —</p><lb/> <p>„Marie! Marie!“ flüſtert mein Schattenbild <choice><sic>lleiſe</sic><corr>leiſe</corr></choice>,<lb/> die Arme gegen ein ſchwach erleuchtetes Fenſter drüben<lb/> ausſtreckend, gegen deſſen herabgelaſſene Gardine der kaum<lb/> bemerkbare Schatten einer menſchlichen Geſtalt fällt,<lb/> und — — — —</p><lb/> <p>Es iſt eine gefährliche Sache, in den Momenten un-<lb/> gewöhnlicher Aufregung — ſei es Freude oder Schmerz,<lb/> Haß oder Liebe — ſich dem klaren, weißen Licht des<lb/> Mondes auszuſetzen. Das Volk ſagt: Man wird dumm<lb/> davon. Wirklich, wunderſame Gedanken bringt dieſer<lb/> reine Schein mit ſich; allerlei tolles Zeug gewinnt<lb/> Macht, ſich des Geiſtes zu bemächtigen und ihn unfähig<lb/> zu machen, fürderhin gemüthlich auf der ausgetretenen<lb/> Straße des Alltagslebens weiter zu traben. „Man wird<lb/> dumm davon!“ — Zauberhafte Ausſichten in <choice><sic>phanttaſti-<lb/> ſche</sic><corr>phantaſti-<lb/> ſche</corr></choice>, nebelhafte Gründe öffnen ſich zu beiden Seiten;<lb/> nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit <choice><sic>Siremen-<lb/> ſang</sic><corr>Sirenen-<lb/> ſang</corr></choice>, flüſtern unwiderſtehlich, winken den Wanderer ab<lb/> vom ſicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in<lb/> den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantaſie. —</p><lb/> <p>„Ich liebe Dich,“ flüſtert mein Schattenbild, „ich<lb/> will Dich reich, ich will Dich glücklich, ich will Dich<lb/> berühmt machen, ich will — der ſchreibende Greis kann<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [18/0028]
tigen Mondenſtrahl, der in dieſem Augenblick durch die
zerriſſenen Wolken fällt, hinein. —
„Marie! Marie!“ flüſtert mein Schattenbild leiſe,
die Arme gegen ein ſchwach erleuchtetes Fenſter drüben
ausſtreckend, gegen deſſen herabgelaſſene Gardine der kaum
bemerkbare Schatten einer menſchlichen Geſtalt fällt,
und — — — —
Es iſt eine gefährliche Sache, in den Momenten un-
gewöhnlicher Aufregung — ſei es Freude oder Schmerz,
Haß oder Liebe — ſich dem klaren, weißen Licht des
Mondes auszuſetzen. Das Volk ſagt: Man wird dumm
davon. Wirklich, wunderſame Gedanken bringt dieſer
reine Schein mit ſich; allerlei tolles Zeug gewinnt
Macht, ſich des Geiſtes zu bemächtigen und ihn unfähig
zu machen, fürderhin gemüthlich auf der ausgetretenen
Straße des Alltagslebens weiter zu traben. „Man wird
dumm davon!“ — Zauberhafte Ausſichten in phantaſti-
ſche, nebelhafte Gründe öffnen ſich zu beiden Seiten;
nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Sirenen-
ſang, flüſtern unwiderſtehlich, winken den Wanderer ab
vom ſicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in
den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantaſie. —
„Ich liebe Dich,“ flüſtert mein Schattenbild, „ich
will Dich reich, ich will Dich glücklich, ich will Dich
berühmt machen, ich will — der ſchreibende Greis kann
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