So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturen- zeichner Ulrich Strobel.
Am 10. December. --
Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hö- ren könnte. Es ist tiefe Nacht.
Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir auftaucht? Ist das Franz, -- der lebensmuthige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einst kannte? --
Drei Monate waren hingegangen, seit man die todte Marie zu ihrer stillen Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf die graugrun- dirte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann:
"Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geschichte er- zählen. Es wird gut sein, daß Du sie kennst, auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind sie er- fahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlassen, Johannes."
"Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ah-
So endete mein erſter Beſuch bei dem Karikaturen- zeichner Ulrich Strobel.
Am 10. December. —
Es iſt jetzt vollſtändig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt der verſpäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hö- ren könnte. Es iſt tiefe Nacht.
Was iſt das für ein bleiches, verfallenes Geſicht, welches da vor mir auftaucht? Iſt das Franz, — der lebensmuthige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einſt kannte? —
Drei Monate waren hingegangen, ſeit man die todte Marie zu ihrer ſtillen Ruheſtätte hinausgetragen hatte. Ich ſaß neben meinem Freunde, der, auf die graugrun- dirte Leinwand vor ihm ſtarrend, plötzlich begann:
„Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geſchichte er- zählen. Es wird gut ſein, daß Du ſie kennſt, auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind ſie er- fahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlaſſen, Johannes.“
„Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unſere früheſte Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ah-
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So endete mein erſter Beſuch bei dem Karikaturen-
zeichner Ulrich Strobel.
Am 10. December. —
Es iſt jetzt vollſtändig Winter geworden; der Schnee
liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt
der verſpäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hö-
ren könnte. Es iſt tiefe Nacht.
Was iſt das für ein bleiches, verfallenes Geſicht,
welches da vor mir auftaucht? Iſt das Franz, — der
lebensmuthige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einſt
kannte? —
Drei Monate waren hingegangen, ſeit man die todte
Marie zu ihrer ſtillen Ruheſtätte hinausgetragen hatte.
Ich ſaß neben meinem Freunde, der, auf die graugrun-
dirte Leinwand vor ihm ſtarrend, plötzlich begann:
„Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geſchichte er-
zählen. Es wird gut ſein, daß Du ſie kennſt, auch
könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind ſie er-
fahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlaſſen,
Johannes.“
„Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unſere
früheſte Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ah-
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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/54>, abgerufen am 16.02.2025.
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