Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Berlin, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite

Ja, ich selber! in der nächsten Gasse erst fragte
ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welt-
einsturz erwachend:

"Was nun? Wohin nun? Willst Du mich in
meinen Gasthof begleiten, Heinrich?"

"In Deinen Gasthof? Hm! Wieder in ein
Privatzimmer daselbst? Hm, hm! Weißt Du, Eduard,
ich bin so lange nicht aus dem Kasten gekommen,
habe seit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe
gesessen: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht
bei meinem alten Mädchen zu Hause, unter unsern
Bäumen, hinterm Ofen, hinter unsern Wällen, kurz
im Kasten! Aber jetzt spüre ich das Bedürfniß
danach, die Ellbogen so auf so einen Tisch am Wege
zu stemmen und das Leben durch die große Gaststube
und auf der allgemeinen Landstraße vorbeipassiren zu
sehen. Komm Alter, wir sitzen vor Deinem Abschied
und Deiner Abreise noch einmal im Goldenen Arm!"

Ich sah noch alles nur wie durch einen Schleier:
die Gassen, die mit uns gehenden oder uns begegnen-
den Menschen, vernahm die Stimmen, das Wagen-
gerassel wie im Traum und fand mich plötzlich
wirklich an einem Fenstertisch im Goldenen Arm
sitzend, indem ich Stopfkuchen pustend Platz nehmen
sah und ihn aufathmend seufzen hörte:

"So!"
und nach einer Weile:

"Ja, ja, ja, ja, wer erschlug den Hahn Gockel?"


Ja, ich ſelber! in der nächſten Gaſſe erſt fragte
ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welt-
einſturz erwachend:

„Was nun? Wohin nun? Willſt Du mich in
meinen Gaſthof begleiten, Heinrich?“

„In Deinen Gaſthof? Hm! Wieder in ein
Privatzimmer daſelbſt? Hm, hm! Weißt Du, Eduard,
ich bin ſo lange nicht aus dem Kaſten gekommen,
habe ſeit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe
geſeſſen: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht
bei meinem alten Mädchen zu Hauſe, unter unſern
Bäumen, hinterm Ofen, hinter unſern Wällen, kurz
im Kaſten! Aber jetzt ſpüre ich das Bedürfniß
danach, die Ellbogen ſo auf ſo einen Tiſch am Wege
zu ſtemmen und das Leben durch die große Gaſtſtube
und auf der allgemeinen Landſtraße vorbeipaſſiren zu
ſehen. Komm Alter, wir ſitzen vor Deinem Abſchied
und Deiner Abreiſe noch einmal im Goldenen Arm!“

Ich ſah noch alles nur wie durch einen Schleier:
die Gaſſen, die mit uns gehenden oder uns begegnen-
den Menſchen, vernahm die Stimmen, das Wagen-
geraſſel wie im Traum und fand mich plötzlich
wirklich an einem Fenſtertiſch im Goldenen Arm
ſitzend, indem ich Stopfkuchen puſtend Platz nehmen
ſah und ihn aufathmend ſeufzen hörte:

„So!“
und nach einer Weile:

„Ja, ja, ja, ja, wer erſchlug den Hahn Gockel?“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0234" n="224"/>
        <p>Ja, ich &#x017F;elber! in der näch&#x017F;ten Ga&#x017F;&#x017F;e er&#x017F;t fragte<lb/>
ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welt-<lb/>
ein&#x017F;turz erwachend:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was nun? Wohin nun? Will&#x017F;t Du mich in<lb/>
meinen Ga&#x017F;thof begleiten, Heinrich?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;In Deinen Ga&#x017F;thof? Hm! Wieder in ein<lb/>
Privatzimmer da&#x017F;elb&#x017F;t? Hm, hm! Weißt Du, Eduard,<lb/>
ich bin &#x017F;o lange nicht aus dem Ka&#x017F;ten gekommen,<lb/>
habe &#x017F;eit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe<lb/>
ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht<lb/>
bei meinem alten Mädchen zu Hau&#x017F;e, unter un&#x017F;ern<lb/>
Bäumen, hinterm Ofen, hinter un&#x017F;ern Wällen, kurz<lb/>
im Ka&#x017F;ten! Aber jetzt &#x017F;püre ich das Bedürfniß<lb/>
danach, die Ellbogen &#x017F;o auf &#x017F;o einen Ti&#x017F;ch am Wege<lb/>
zu &#x017F;temmen und das Leben durch die große Ga&#x017F;t&#x017F;tube<lb/>
und auf der allgemeinen Land&#x017F;traße vorbeipa&#x017F;&#x017F;iren zu<lb/>
&#x017F;ehen. Komm Alter, wir &#x017F;itzen vor Deinem Ab&#x017F;chied<lb/>
und Deiner Abrei&#x017F;e noch einmal im Goldenen Arm!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich &#x017F;ah noch alles nur wie durch einen Schleier:<lb/>
die Ga&#x017F;&#x017F;en, die mit uns gehenden oder uns begegnen-<lb/>
den Men&#x017F;chen, vernahm die Stimmen, das Wagen-<lb/>
gera&#x017F;&#x017F;el wie im Traum und fand mich plötzlich<lb/>
wirklich an einem Fen&#x017F;terti&#x017F;ch im Goldenen Arm<lb/>
&#x017F;itzend, indem ich Stopfkuchen pu&#x017F;tend Platz nehmen<lb/>
&#x017F;ah und ihn aufathmend &#x017F;eufzen hörte:</p><lb/>
        <p>&#x201E;So!&#x201C;<lb/>
und nach einer Weile:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ja, ja, ja, ja, wer er&#x017F;chlug den Hahn Gockel?&#x201C;</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0234] Ja, ich ſelber! in der nächſten Gaſſe erſt fragte ich, aus meiner Betäubung durch einen halben Welt- einſturz erwachend: „Was nun? Wohin nun? Willſt Du mich in meinen Gaſthof begleiten, Heinrich?“ „In Deinen Gaſthof? Hm! Wieder in ein Privatzimmer daſelbſt? Hm, hm! Weißt Du, Eduard, ich bin ſo lange nicht aus dem Kaſten gekommen, habe ſeit Jahren in keiner echten und gerechten Kneipe geſeſſen: ich hatte es wohl zu behaglich kneipgerecht bei meinem alten Mädchen zu Hauſe, unter unſern Bäumen, hinterm Ofen, hinter unſern Wällen, kurz im Kaſten! Aber jetzt ſpüre ich das Bedürfniß danach, die Ellbogen ſo auf ſo einen Tiſch am Wege zu ſtemmen und das Leben durch die große Gaſtſtube und auf der allgemeinen Landſtraße vorbeipaſſiren zu ſehen. Komm Alter, wir ſitzen vor Deinem Abſchied und Deiner Abreiſe noch einmal im Goldenen Arm!“ Ich ſah noch alles nur wie durch einen Schleier: die Gaſſen, die mit uns gehenden oder uns begegnen- den Menſchen, vernahm die Stimmen, das Wagen- geraſſel wie im Traum und fand mich plötzlich wirklich an einem Fenſtertiſch im Goldenen Arm ſitzend, indem ich Stopfkuchen puſtend Platz nehmen ſah und ihn aufathmend ſeufzen hörte: „So!“ und nach einer Weile: „Ja, ja, ja, ja, wer erſchlug den Hahn Gockel?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm Raabes "Stopfkuchen. Eine See- und Mordge… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891/234
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Berlin, 1891, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891/234>, abgerufen am 26.11.2024.