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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751.

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von den abgeschiednen Seelen.
Kunstrichter aus den vorigen Jahrhunderten lächer-
lich gemacht hatten. Denn, dem Himmel sey Dank!
unsre Kunstrichter machen es gar nicht so. Diese
untersuchen die gelehrten Wahrheiten ohne die ge-
ringste Heftigkeit, ohne Eigenliebe, ohne Vorurtheil.
Mitten in ihren Streitigkeiten sind sie bescheiden.
Sie geben mit Vergnügen nach, so bald sie über-
führt werden, daß ihre Meynung irrig ist, und
freuen sich, wenn man sie davon überführt. So
machen es unsre heutigen Kunstrichter in diesen ge-
sitteten und aufgeklärten Zeiten. Aber vor Alters
war es freylich ganz anders!

Dieses waren ohngefähr meine Betrachtungen,
welche ich damals bey mir anstellte, und ich hieng
ihnen mit solchem Vergnügen nach, daß ich meinen
Führer nicht vermißte, welcher sich indessen in die
Höhe begeben hatte, und mir, als ich ihm nachsah,
winkte, daß ich ihm folgen sollte. Er zeigte mir
von fern in der Stadt die ängstliche Beschäfftigung
einer abgeschiednen Seele. Wir begaben uns näher
hinzu, und ich ward gewahr, daß sie sehr verhungert
aussah. Sie schwärmte um einen prächtigvergol-
deten Wagen, welcher vor dem Hause eines Kauf-
manns hielt, dessen Name mir wohl bekannt war,
sehr vielen aber in der Stadt noch bekannter, als
mir, ist, weil sie seinen Staat durch ihren Vorschuß
unterhalten müssen. Anfänglich war ich zweifelhaft,
was die Absicht dieser unruhigen Seele seyn müßte,
und beynahe hätte mich die zerrißne, und übelge-
flickte Kleidung auf die argwöhnischen Gedanken ge-
bracht, es sey eine von denen Seelen, welche in der

Welt

von den abgeſchiednen Seelen.
Kunſtrichter aus den vorigen Jahrhunderten laͤcher-
lich gemacht hatten. Denn, dem Himmel ſey Dank!
unſre Kunſtrichter machen es gar nicht ſo. Dieſe
unterſuchen die gelehrten Wahrheiten ohne die ge-
ringſte Heftigkeit, ohne Eigenliebe, ohne Vorurtheil.
Mitten in ihren Streitigkeiten ſind ſie beſcheiden.
Sie geben mit Vergnuͤgen nach, ſo bald ſie uͤber-
fuͤhrt werden, daß ihre Meynung irrig iſt, und
freuen ſich, wenn man ſie davon uͤberfuͤhrt. So
machen es unſre heutigen Kunſtrichter in dieſen ge-
ſitteten und aufgeklaͤrten Zeiten. Aber vor Alters
war es freylich ganz anders!

Dieſes waren ohngefaͤhr meine Betrachtungen,
welche ich damals bey mir anſtellte, und ich hieng
ihnen mit ſolchem Vergnuͤgen nach, daß ich meinen
Fuͤhrer nicht vermißte, welcher ſich indeſſen in die
Hoͤhe begeben hatte, und mir, als ich ihm nachſah,
winkte, daß ich ihm folgen ſollte. Er zeigte mir
von fern in der Stadt die aͤngſtliche Beſchaͤfftigung
einer abgeſchiednen Seele. Wir begaben uns naͤher
hinzu, und ich ward gewahr, daß ſie ſehr verhungert
ausſah. Sie ſchwaͤrmte um einen praͤchtigvergol-
deten Wagen, welcher vor dem Hauſe eines Kauf-
manns hielt, deſſen Name mir wohl bekannt war,
ſehr vielen aber in der Stadt noch bekannter, als
mir, iſt, weil ſie ſeinen Staat durch ihren Vorſchuß
unterhalten muͤſſen. Anfaͤnglich war ich zweifelhaft,
was die Abſicht dieſer unruhigen Seele ſeyn muͤßte,
und beynahe haͤtte mich die zerrißne, und uͤbelge-
flickte Kleidung auf die argwoͤhniſchen Gedanken ge-
bracht, es ſey eine von denen Seelen, welche in der

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[43/0043] von den abgeſchiednen Seelen. Kunſtrichter aus den vorigen Jahrhunderten laͤcher- lich gemacht hatten. Denn, dem Himmel ſey Dank! unſre Kunſtrichter machen es gar nicht ſo. Dieſe unterſuchen die gelehrten Wahrheiten ohne die ge- ringſte Heftigkeit, ohne Eigenliebe, ohne Vorurtheil. Mitten in ihren Streitigkeiten ſind ſie beſcheiden. Sie geben mit Vergnuͤgen nach, ſo bald ſie uͤber- fuͤhrt werden, daß ihre Meynung irrig iſt, und freuen ſich, wenn man ſie davon uͤberfuͤhrt. So machen es unſre heutigen Kunſtrichter in dieſen ge- ſitteten und aufgeklaͤrten Zeiten. Aber vor Alters war es freylich ganz anders! Dieſes waren ohngefaͤhr meine Betrachtungen, welche ich damals bey mir anſtellte, und ich hieng ihnen mit ſolchem Vergnuͤgen nach, daß ich meinen Fuͤhrer nicht vermißte, welcher ſich indeſſen in die Hoͤhe begeben hatte, und mir, als ich ihm nachſah, winkte, daß ich ihm folgen ſollte. Er zeigte mir von fern in der Stadt die aͤngſtliche Beſchaͤfftigung einer abgeſchiednen Seele. Wir begaben uns naͤher hinzu, und ich ward gewahr, daß ſie ſehr verhungert ausſah. Sie ſchwaͤrmte um einen praͤchtigvergol- deten Wagen, welcher vor dem Hauſe eines Kauf- manns hielt, deſſen Name mir wohl bekannt war, ſehr vielen aber in der Stadt noch bekannter, als mir, iſt, weil ſie ſeinen Staat durch ihren Vorſchuß unterhalten muͤſſen. Anfaͤnglich war ich zweifelhaft, was die Abſicht dieſer unruhigen Seele ſeyn muͤßte, und beynahe haͤtte mich die zerrißne, und uͤbelge- flickte Kleidung auf die argwoͤhniſchen Gedanken ge- bracht, es ſey eine von denen Seelen, welche in der Welt

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung02_1751/43>, abgerufen am 29.04.2024.