[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.Abhandlung von Sprüchwörtern. in den alten blauen Mantel gehüllt hat? Grüßensie ihn, er kann ihnen nicht danken; denn er trägt unter dem Mantel in beiden Händen die Käse und die Wurzeln, die er selbst eingekauft hat, um sich die Woche hindurch nothdürftig davon zu nähren. Wie reich glauben sie wohl, daß er sey? Urthei- len sie nicht nach seiner verhungerten Miene, und noch weniger nach den zerrissenen Kleidern, die ihm an dem Leibe verfaulen. Er hat zehen tau- send Thaler auf Hypotheken, und noch überdieß so viel baares Geld, daß er der halben Stadt auf Pfänder leiht. Und noch ist alles dieses nicht vermögend; ihm die ängstliche Sorge zu beneh- men, daß er in seinem acht und sechzigsten Jahre gar leicht Hungers sterben könne. Seine näch- sten Anverwandten müssen neben ihm darben. Er läßt sie nichts von seinen Schätzen genießen: denn er glaubt, der Himmel habe sie nicht ohne weise Ursachen so arm werden lassen; und den Absichten des Himmels sich zu widersetzen, das hält sein frommer Geiz für eine große Sünde. Er weis, daß seine Anverwandten auf seinen Tod ängstlich warten; um deßwillen hält er sie für seine gefährlichsten Feinde. Weil er gehört hat, daß man in jenem Leben weder Nahrung noch Kleider braucht, so wünschte er sich freylich wohl ein sanf- tes und seliges Ende, wenn er sich nur nicht vor den Begräbnißkosten so sehr fürchtete. Das kann er gar nicht begreifen, was die liebe Obrigkeit denkt, daß sie den Geistlichen zuläßt, so viel Un- kosten für ein kleines Grab zu fodern. Die Erde ist K 2
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. in den alten blauen Mantel gehuͤllt hat? Gruͤßenſie ihn, er kann ihnen nicht danken; denn er traͤgt unter dem Mantel in beiden Haͤnden die Kaͤſe und die Wurzeln, die er ſelbſt eingekauft hat, um ſich die Woche hindurch nothduͤrftig davon zu naͤhren. Wie reich glauben ſie wohl, daß er ſey? Urthei- len ſie nicht nach ſeiner verhungerten Miene, und noch weniger nach den zerriſſenen Kleidern, die ihm an dem Leibe verfaulen. Er hat zehen tau- ſend Thaler auf Hypotheken, und noch uͤberdieß ſo viel baares Geld, daß er der halben Stadt auf Pfaͤnder leiht. Und noch iſt alles dieſes nicht vermoͤgend; ihm die aͤngſtliche Sorge zu beneh- men, daß er in ſeinem acht und ſechzigſten Jahre gar leicht Hungers ſterben koͤnne. Seine naͤch- ſten Anverwandten muͤſſen neben ihm darben. Er laͤßt ſie nichts von ſeinen Schaͤtzen genießen: denn er glaubt, der Himmel habe ſie nicht ohne weiſe Urſachen ſo arm werden laſſen; und den Abſichten des Himmels ſich zu widerſetzen, das haͤlt ſein frommer Geiz fuͤr eine große Suͤnde. Er weis, daß ſeine Anverwandten auf ſeinen Tod aͤngſtlich warten; um deßwillen haͤlt er ſie fuͤr ſeine gefaͤhrlichſten Feinde. Weil er gehoͤrt hat, daß man in jenem Leben weder Nahrung noch Kleider braucht, ſo wuͤnſchte er ſich freylich wohl ein ſanf- tes und ſeliges Ende, wenn er ſich nur nicht vor den Begraͤbnißkoſten ſo ſehr fuͤrchtete. Das kann er gar nicht begreifen, was die liebe Obrigkeit denkt, daß ſie den Geiſtlichen zulaͤßt, ſo viel Un- koſten fuͤr ein kleines Grab zu fodern. Die Erde iſt K 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0169" n="147"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.</hi></fw><lb/> in den alten blauen Mantel gehuͤllt hat? Gruͤßen<lb/> ſie ihn, er kann ihnen nicht danken; denn er traͤgt<lb/> unter dem Mantel in beiden Haͤnden die Kaͤſe und<lb/> die Wurzeln, die er ſelbſt eingekauft hat, um ſich<lb/> die Woche hindurch nothduͤrftig davon zu naͤhren.<lb/> Wie reich glauben ſie wohl, daß er ſey? Urthei-<lb/> len ſie nicht nach ſeiner verhungerten Miene, und<lb/> noch weniger nach den zerriſſenen Kleidern, die<lb/> ihm an dem Leibe verfaulen. Er hat zehen tau-<lb/> ſend Thaler auf Hypotheken, und noch uͤberdieß<lb/> ſo viel baares Geld, daß er der halben Stadt<lb/> auf Pfaͤnder leiht. Und noch iſt alles dieſes nicht<lb/> vermoͤgend; ihm die aͤngſtliche Sorge zu beneh-<lb/> men, daß er in ſeinem acht und ſechzigſten Jahre<lb/> gar leicht Hungers ſterben koͤnne. Seine naͤch-<lb/> ſten Anverwandten muͤſſen neben ihm darben. Er<lb/> laͤßt ſie nichts von ſeinen Schaͤtzen genießen:<lb/> denn er glaubt, der Himmel habe ſie nicht ohne<lb/> weiſe Urſachen ſo arm werden laſſen; und den<lb/> Abſichten des Himmels ſich zu widerſetzen, das<lb/> haͤlt ſein frommer Geiz fuͤr eine große Suͤnde. Er<lb/> weis, daß ſeine Anverwandten auf ſeinen Tod<lb/> aͤngſtlich warten; um deßwillen haͤlt er ſie fuͤr ſeine<lb/> gefaͤhrlichſten Feinde. Weil er gehoͤrt hat, daß<lb/> man in jenem Leben weder Nahrung noch Kleider<lb/> braucht, ſo wuͤnſchte er ſich freylich wohl ein ſanf-<lb/> tes und ſeliges Ende, wenn er ſich nur nicht vor<lb/> den Begraͤbnißkoſten ſo ſehr fuͤrchtete. Das kann<lb/> er gar nicht begreifen, was die liebe Obrigkeit<lb/> denkt, daß ſie den Geiſtlichen zulaͤßt, ſo viel Un-<lb/> koſten fuͤr ein kleines Grab zu fodern. Die Erde<lb/> <fw place="bottom" type="sig">K 2</fw><fw place="bottom" type="catch">iſt</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [147/0169]
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
in den alten blauen Mantel gehuͤllt hat? Gruͤßen
ſie ihn, er kann ihnen nicht danken; denn er traͤgt
unter dem Mantel in beiden Haͤnden die Kaͤſe und
die Wurzeln, die er ſelbſt eingekauft hat, um ſich
die Woche hindurch nothduͤrftig davon zu naͤhren.
Wie reich glauben ſie wohl, daß er ſey? Urthei-
len ſie nicht nach ſeiner verhungerten Miene, und
noch weniger nach den zerriſſenen Kleidern, die
ihm an dem Leibe verfaulen. Er hat zehen tau-
ſend Thaler auf Hypotheken, und noch uͤberdieß
ſo viel baares Geld, daß er der halben Stadt
auf Pfaͤnder leiht. Und noch iſt alles dieſes nicht
vermoͤgend; ihm die aͤngſtliche Sorge zu beneh-
men, daß er in ſeinem acht und ſechzigſten Jahre
gar leicht Hungers ſterben koͤnne. Seine naͤch-
ſten Anverwandten muͤſſen neben ihm darben. Er
laͤßt ſie nichts von ſeinen Schaͤtzen genießen:
denn er glaubt, der Himmel habe ſie nicht ohne
weiſe Urſachen ſo arm werden laſſen; und den
Abſichten des Himmels ſich zu widerſetzen, das
haͤlt ſein frommer Geiz fuͤr eine große Suͤnde. Er
weis, daß ſeine Anverwandten auf ſeinen Tod
aͤngſtlich warten; um deßwillen haͤlt er ſie fuͤr ſeine
gefaͤhrlichſten Feinde. Weil er gehoͤrt hat, daß
man in jenem Leben weder Nahrung noch Kleider
braucht, ſo wuͤnſchte er ſich freylich wohl ein ſanf-
tes und ſeliges Ende, wenn er ſich nur nicht vor
den Begraͤbnißkoſten ſo ſehr fuͤrchtete. Das kann
er gar nicht begreifen, was die liebe Obrigkeit
denkt, daß ſie den Geiſtlichen zulaͤßt, ſo viel Un-
koſten fuͤr ein kleines Grab zu fodern. Die Erde
iſt
K 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |