[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.Abhandlung von Sprüchwörtern. Bey dieser Vorstellung hielt er sich einige Minu-ten auf; nach und nach führte er sie unter den an- genehmsten Beschreibungen eines sanften Todes auf den Punct, welcher so kützlich zu sagen war, und als er sie endlich mit so vielen Umschweifen zubereitet hatte, so wagte er es, und eröffnete ihr: Sie müsse sterben. Jch sterben? rief sie, und fuhr in dem Bette auf; ich, in meinem sechs und dreyßigsten Jahre sterben? Was fehlt mir? Bin ich so krank? Wo ist der Medicus? Sie sahe sich wild in der Stube um; sie erblickte ihren Mann, und ihre Freunde in der traurigsten Stellung. Das vermehrte ihre Unruhe. Der Geistliche wollte noch einen Versuch seiner Redekunst wagen; aber sie war außer sich. Sie fiel ihm mit Unge- stüm in die Rede, und hieß ihn schweigen. Jch sterbe nicht, rief sie! Bin ich allein die Sünderinn, die so früh sterben soll? Sie drückte ihrem Manne die Hände, und bat, er möchte den Geistlichen von ihr gehen lassen, welcher auch so bescheiden war, und in das nächste Zimmer gieng. Jnzwischen kam der Arzt. So bald er herein trat, rief sie ihm mit einer röchelnden Stimme entgegen: Jst es wahr? Muß ich sterben? Der Arzt schwieg, und zuckte die Achseln. Sie verstand diese trau- rige Sprache. Verräther! durch ihre Verwahr- losung sterbe ich! Das sagte sie mit einer ihr unge- wöhnlichen Wut. Der Arzt wollte ihr nach dem Pulse greifen: Sie stieß ihn von sich, und hüllte den Kopf in das Bette. Was sollten wir nun anfangen? Wir sahen aus ihren Bewegungen die Angst
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. Bey dieſer Vorſtellung hielt er ſich einige Minu-ten auf; nach und nach fuͤhrte er ſie unter den an- genehmſten Beſchreibungen eines ſanften Todes auf den Punct, welcher ſo kuͤtzlich zu ſagen war, und als er ſie endlich mit ſo vielen Umſchweifen zubereitet hatte, ſo wagte er es, und eroͤffnete ihr: Sie muͤſſe ſterben. Jch ſterben? rief ſie, und fuhr in dem Bette auf; ich, in meinem ſechs und dreyßigſten Jahre ſterben? Was fehlt mir? Bin ich ſo krank? Wo iſt der Medicus? Sie ſahe ſich wild in der Stube um; ſie erblickte ihren Mann, und ihre Freunde in der traurigſten Stellung. Das vermehrte ihre Unruhe. Der Geiſtliche wollte noch einen Verſuch ſeiner Redekunſt wagen; aber ſie war außer ſich. Sie fiel ihm mit Unge- ſtuͤm in die Rede, und hieß ihn ſchweigen. Jch ſterbe nicht, rief ſie! Bin ich allein die Suͤnderinn, die ſo fruͤh ſterben ſoll? Sie druͤckte ihrem Manne die Haͤnde, und bat, er moͤchte den Geiſtlichen von ihr gehen laſſen, welcher auch ſo beſcheiden war, und in das naͤchſte Zimmer gieng. Jnzwiſchen kam der Arzt. So bald er herein trat, rief ſie ihm mit einer roͤchelnden Stimme entgegen: Jſt es wahr? Muß ich ſterben? Der Arzt ſchwieg, und zuckte die Achſeln. Sie verſtand dieſe trau- rige Sprache. Verraͤther! durch ihre Verwahr- loſung ſterbe ich! Das ſagte ſie mit einer ihr unge- woͤhnlichen Wut. Der Arzt wollte ihr nach dem Pulſe greifen: Sie ſtieß ihn von ſich, und huͤllte den Kopf in das Bette. Was ſollten wir nun anfangen? Wir ſahen aus ihren Bewegungen die Angſt
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0177" n="155"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.</hi></fw><lb/> Bey dieſer Vorſtellung hielt er ſich einige Minu-<lb/> ten auf; nach und nach fuͤhrte er ſie unter den an-<lb/> genehmſten Beſchreibungen eines ſanften Todes<lb/> auf den Punct, welcher ſo kuͤtzlich zu ſagen war,<lb/> und als er ſie endlich mit ſo vielen Umſchweifen<lb/> zubereitet hatte, ſo wagte er es, und eroͤffnete ihr:<lb/> Sie muͤſſe ſterben. Jch ſterben? rief ſie, und<lb/> fuhr in dem Bette auf; ich, in meinem ſechs und<lb/> dreyßigſten Jahre ſterben? Was fehlt mir? Bin<lb/> ich ſo krank? Wo iſt der Medicus? Sie ſahe ſich<lb/> wild in der Stube um; ſie erblickte ihren Mann,<lb/> und ihre Freunde in der traurigſten Stellung.<lb/> Das vermehrte ihre Unruhe. Der Geiſtliche<lb/> wollte noch einen Verſuch ſeiner Redekunſt wagen;<lb/> aber ſie war außer ſich. Sie fiel ihm mit Unge-<lb/> ſtuͤm in die Rede, und hieß ihn ſchweigen. Jch<lb/> ſterbe nicht, rief ſie! Bin ich allein die Suͤnderinn,<lb/> die ſo fruͤh ſterben ſoll? Sie druͤckte ihrem Manne<lb/> die Haͤnde, und bat, er moͤchte den Geiſtlichen von<lb/> ihr gehen laſſen, welcher auch ſo beſcheiden war,<lb/> und in das naͤchſte Zimmer gieng. Jnzwiſchen<lb/> kam der Arzt. So bald er herein trat, rief ſie<lb/> ihm mit einer roͤchelnden Stimme entgegen: Jſt<lb/> es wahr? Muß ich ſterben? Der Arzt ſchwieg,<lb/> und zuckte die Achſeln. Sie verſtand dieſe trau-<lb/> rige Sprache. Verraͤther! durch ihre Verwahr-<lb/> loſung ſterbe ich! Das ſagte ſie mit einer ihr unge-<lb/> woͤhnlichen Wut. Der Arzt wollte ihr nach dem<lb/> Pulſe greifen: Sie ſtieß ihn von ſich, und huͤllte<lb/> den Kopf in das Bette. Was ſollten wir nun<lb/> anfangen? Wir ſahen aus ihren Bewegungen die<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Angſt</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [155/0177]
Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
Bey dieſer Vorſtellung hielt er ſich einige Minu-
ten auf; nach und nach fuͤhrte er ſie unter den an-
genehmſten Beſchreibungen eines ſanften Todes
auf den Punct, welcher ſo kuͤtzlich zu ſagen war,
und als er ſie endlich mit ſo vielen Umſchweifen
zubereitet hatte, ſo wagte er es, und eroͤffnete ihr:
Sie muͤſſe ſterben. Jch ſterben? rief ſie, und
fuhr in dem Bette auf; ich, in meinem ſechs und
dreyßigſten Jahre ſterben? Was fehlt mir? Bin
ich ſo krank? Wo iſt der Medicus? Sie ſahe ſich
wild in der Stube um; ſie erblickte ihren Mann,
und ihre Freunde in der traurigſten Stellung.
Das vermehrte ihre Unruhe. Der Geiſtliche
wollte noch einen Verſuch ſeiner Redekunſt wagen;
aber ſie war außer ſich. Sie fiel ihm mit Unge-
ſtuͤm in die Rede, und hieß ihn ſchweigen. Jch
ſterbe nicht, rief ſie! Bin ich allein die Suͤnderinn,
die ſo fruͤh ſterben ſoll? Sie druͤckte ihrem Manne
die Haͤnde, und bat, er moͤchte den Geiſtlichen von
ihr gehen laſſen, welcher auch ſo beſcheiden war,
und in das naͤchſte Zimmer gieng. Jnzwiſchen
kam der Arzt. So bald er herein trat, rief ſie
ihm mit einer roͤchelnden Stimme entgegen: Jſt
es wahr? Muß ich ſterben? Der Arzt ſchwieg,
und zuckte die Achſeln. Sie verſtand dieſe trau-
rige Sprache. Verraͤther! durch ihre Verwahr-
loſung ſterbe ich! Das ſagte ſie mit einer ihr unge-
woͤhnlichen Wut. Der Arzt wollte ihr nach dem
Pulſe greifen: Sie ſtieß ihn von ſich, und huͤllte
den Kopf in das Bette. Was ſollten wir nun
anfangen? Wir ſahen aus ihren Bewegungen die
Angſt
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |