Gedichte verfertigt, so kömmt eine ansehnliche Summe heraus.
Alte Poeten, die über sechzig Jahre sind, zah- len diese Taxe doppelt; denn unter allen sind sie am unerträglichsten.
Wer 30 Stüver zahlt, soll befugt seyn, die Leute auf der Gasse anzufallen, und ihnen vor- zulesen.
Alle Poeten behalten die natürliche Freyheit, ihre Arbeiten, wenn sie ganz allein sind, laut zu lesen, so oft sie wollen. Sie dürfen auch darüber lachen, ohne einen Deut Contribution zu ent- richten. Doch ist wohl zu merken: Wenn sie dieses thun, so müssen ihre Stuben abgelegen, und die Vorhänge fest zugezogen seyn, damit nie- mand von der Nachbarschaft dadurch geärgert werde.
Die Dichter, welche mit dem Weihrauche unter dem Volke herumgehen, und ihren Segen Bekannten und Unbekannten ertheilen, werden es nicht unbillig finden, daß sie auch einen Beytrag geben. Sie wünschen den Leuten beständig Gu- tes; nun mögen sie ihnen auch einmal Gutes thun. Jch will nicht so lieblos seyn, wie die Kunstrichter, welche diese gratulirenden Jnsecten lieber gar vom Parnasse vertilgen möchten, und sie mit ihren schönen Spielwerken und bunten Rari- täten, nicht einmal in den stillen Morästen des Parnasses ruhig qvaken lassen. Desto billiger will ich seyn, da ich überzeugt bin, daß die Natur nicht einmal den verachtetsten Wurm umsonst
schafft,
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Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
Gedichte verfertigt, ſo koͤmmt eine anſehnliche Summe heraus.
Alte Poeten, die uͤber ſechzig Jahre ſind, zah- len dieſe Taxe doppelt; denn unter allen ſind ſie am unertraͤglichſten.
Wer 30 Stuͤver zahlt, ſoll befugt ſeyn, die Leute auf der Gaſſe anzufallen, und ihnen vor- zuleſen.
Alle Poeten behalten die natuͤrliche Freyheit, ihre Arbeiten, wenn ſie ganz allein ſind, laut zu leſen, ſo oft ſie wollen. Sie duͤrfen auch daruͤber lachen, ohne einen Deut Contribution zu ent- richten. Doch iſt wohl zu merken: Wenn ſie dieſes thun, ſo muͤſſen ihre Stuben abgelegen, und die Vorhaͤnge feſt zugezogen ſeyn, damit nie- mand von der Nachbarſchaft dadurch geaͤrgert werde.
Die Dichter, welche mit dem Weihrauche unter dem Volke herumgehen, und ihren Segen Bekannten und Unbekannten ertheilen, werden es nicht unbillig finden, daß ſie auch einen Beytrag geben. Sie wuͤnſchen den Leuten beſtaͤndig Gu- tes; nun moͤgen ſie ihnen auch einmal Gutes thun. Jch will nicht ſo lieblos ſeyn, wie die Kunſtrichter, welche dieſe gratulirenden Jnſecten lieber gar vom Parnaſſe vertilgen moͤchten, und ſie mit ihren ſchoͤnen Spielwerken und bunten Rari- taͤten, nicht einmal in den ſtillen Moraͤſten des Parnaſſes ruhig qvaken laſſen. Deſto billiger will ich ſeyn, da ich uͤberzeugt bin, daß die Natur nicht einmal den verachtetſten Wurm umſonſt
ſchafft,
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Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
Gedichte verfertigt, ſo koͤmmt eine anſehnliche
Summe heraus.
Alte Poeten, die uͤber ſechzig Jahre ſind, zah-
len dieſe Taxe doppelt; denn unter allen ſind ſie
am unertraͤglichſten.
Wer 30 Stuͤver zahlt, ſoll befugt ſeyn, die
Leute auf der Gaſſe anzufallen, und ihnen vor-
zuleſen.
Alle Poeten behalten die natuͤrliche Freyheit,
ihre Arbeiten, wenn ſie ganz allein ſind, laut zu
leſen, ſo oft ſie wollen. Sie duͤrfen auch daruͤber
lachen, ohne einen Deut Contribution zu ent-
richten. Doch iſt wohl zu merken: Wenn ſie
dieſes thun, ſo muͤſſen ihre Stuben abgelegen,
und die Vorhaͤnge feſt zugezogen ſeyn, damit nie-
mand von der Nachbarſchaft dadurch geaͤrgert
werde.
Die Dichter, welche mit dem Weihrauche
unter dem Volke herumgehen, und ihren Segen
Bekannten und Unbekannten ertheilen, werden es
nicht unbillig finden, daß ſie auch einen Beytrag
geben. Sie wuͤnſchen den Leuten beſtaͤndig Gu-
tes; nun moͤgen ſie ihnen auch einmal Gutes
thun. Jch will nicht ſo lieblos ſeyn, wie die
Kunſtrichter, welche dieſe gratulirenden Jnſecten
lieber gar vom Parnaſſe vertilgen moͤchten, und ſie
mit ihren ſchoͤnen Spielwerken und bunten Rari-
taͤten, nicht einmal in den ſtillen Moraͤſten des
Parnaſſes ruhig qvaken laſſen. Deſto billiger
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/335>, abgerufen am 22.11.2024.
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