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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Zweytes Buch.
43.

Beobachten sie einmal die Pharisäermiene, mit
welcher Orgon (52) von seinem Fenster herab
auf eine Menge armer Bürger sieht, die sich vor
seinem Hause versammelt haben, um einen kleinen
Theil von denen zwanzig Thalern zu bekommen,
die er unter sie ausspenden läßt, und allemal auf
den heutigen Tag auszuspenden verordnet hat. Be-
trachten sie aber auch zugleich seine Aufmerksamkeit,
mit welcher er die Fenster der Gasse, und die Ge-
sichter der Vorbeygehenden untersucht: Ob sie
auch sein mildthätiges Christenthum genug bewun-
dern, und ob sie auch denjenigen am Fenster ste-
hen sehen, aus dessen wohlthuender Hand so viel
Segen auf das arme Volk herabträufelt? Wie
sehr betrügt sich Orgon, wenn er glaubt, daß er
durch diese milde Stiftung die Hochachtung seiner
Mitbürger erlangen, und bey den Nachkommen
sein Andenken erhalten werde! Die ganze Stadt
redet heute von dieser neuen Stiftung, das ist
wahr: Aber die ganze Stadt erinnert sich auch
heute zugleich der Ungerechtigkeiten und der Meinei-
de, mit welchen Orgon sein Vermögen zusammen ge-
scharret hat. Die Nachkommen, so lange sie noch
von ihm etwas wissen, werden eben das sagen,
und erst alsdann, wenn man seinen Namen ganz
wird vergessen haben, alsdann erst wird dieses
Gestifte erbaulich, und von einigem Werthe seyn.
Orgon ist nicht ganz ohne Gewissen. Er fühlt
seine Bosheiten; er weis, daß er nur wenige Jah-

re
(52) Dieser lärmende Wohlthäter heißt T - -.
Zweytes Buch.
43.

Beobachten ſie einmal die Phariſaͤermiene, mit
welcher Orgon (52) von ſeinem Fenſter herab
auf eine Menge armer Buͤrger ſieht, die ſich vor
ſeinem Hauſe verſammelt haben, um einen kleinen
Theil von denen zwanzig Thalern zu bekommen,
die er unter ſie ausſpenden laͤßt, und allemal auf
den heutigen Tag auszuſpenden verordnet hat. Be-
trachten ſie aber auch zugleich ſeine Aufmerkſamkeit,
mit welcher er die Fenſter der Gaſſe, und die Ge-
ſichter der Vorbeygehenden unterſucht: Ob ſie
auch ſein mildthaͤtiges Chriſtenthum genug bewun-
dern, und ob ſie auch denjenigen am Fenſter ſte-
hen ſehen, aus deſſen wohlthuender Hand ſo viel
Segen auf das arme Volk herabtraͤufelt? Wie
ſehr betruͤgt ſich Orgon, wenn er glaubt, daß er
durch dieſe milde Stiftung die Hochachtung ſeiner
Mitbuͤrger erlangen, und bey den Nachkommen
ſein Andenken erhalten werde! Die ganze Stadt
redet heute von dieſer neuen Stiftung, das iſt
wahr: Aber die ganze Stadt erinnert ſich auch
heute zugleich der Ungerechtigkeiten und der Meinei-
de, mit welchen Orgon ſein Vermoͤgen zuſammen ge-
ſcharret hat. Die Nachkommen, ſo lange ſie noch
von ihm etwas wiſſen, werden eben das ſagen,
und erſt alsdann, wenn man ſeinen Namen ganz
wird vergeſſen haben, alsdann erſt wird dieſes
Geſtifte erbaulich, und von einigem Werthe ſeyn.
Orgon iſt nicht ganz ohne Gewiſſen. Er fuͤhlt
ſeine Bosheiten; er weis, daß er nur wenige Jah-

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(52) Dieſer laͤrmende Wohlthaͤter heißt T ‒ ‒.
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[543[541]/0565] Zweytes Buch. 43. Beobachten ſie einmal die Phariſaͤermiene, mit welcher Orgon (52) von ſeinem Fenſter herab auf eine Menge armer Buͤrger ſieht, die ſich vor ſeinem Hauſe verſammelt haben, um einen kleinen Theil von denen zwanzig Thalern zu bekommen, die er unter ſie ausſpenden laͤßt, und allemal auf den heutigen Tag auszuſpenden verordnet hat. Be- trachten ſie aber auch zugleich ſeine Aufmerkſamkeit, mit welcher er die Fenſter der Gaſſe, und die Ge- ſichter der Vorbeygehenden unterſucht: Ob ſie auch ſein mildthaͤtiges Chriſtenthum genug bewun- dern, und ob ſie auch denjenigen am Fenſter ſte- hen ſehen, aus deſſen wohlthuender Hand ſo viel Segen auf das arme Volk herabtraͤufelt? Wie ſehr betruͤgt ſich Orgon, wenn er glaubt, daß er durch dieſe milde Stiftung die Hochachtung ſeiner Mitbuͤrger erlangen, und bey den Nachkommen ſein Andenken erhalten werde! Die ganze Stadt redet heute von dieſer neuen Stiftung, das iſt wahr: Aber die ganze Stadt erinnert ſich auch heute zugleich der Ungerechtigkeiten und der Meinei- de, mit welchen Orgon ſein Vermoͤgen zuſammen ge- ſcharret hat. Die Nachkommen, ſo lange ſie noch von ihm etwas wiſſen, werden eben das ſagen, und erſt alsdann, wenn man ſeinen Namen ganz wird vergeſſen haben, alsdann erſt wird dieſes Geſtifte erbaulich, und von einigem Werthe ſeyn. Orgon iſt nicht ganz ohne Gewiſſen. Er fuͤhlt ſeine Bosheiten; er weis, daß er nur wenige Jah- re (52) Dieſer laͤrmende Wohlthaͤter heißt T ‒ ‒.

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 543[541]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/565>, abgerufen am 22.11.2024.