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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787.

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Der Vaticanische Pallast.
wird durch die Göttin der Rache, die flammende
Blicke und brennende Fackel verkündigen, gewaltsam
fortgerissen. Umsonst wirft sich Venus in Thränen
in die Arme des Geliebten, umsonst umschlingen Amo-
rinen seine Knie; er zertritt mit seinen Füßen halbzer-
rissene Bücher, vor seinem Anblick stürzen Künste und
Wissenschaften zu Boden. Verzweiflungsvoll ver-
birgt ein Weib ihr Kind in ihren Busen, auf der
Schwelle des geöffneten Janustempels sitzt die trost-
lose Erde, und im Hintergrunde läßt die Flamme
brennender Dörfer ein verheertes Land und Gruppen
von Kriegern sehen.

Jedem ist die Allegorie begreiflich; aber gesetzt,
sie wäre es nicht! Werden wir darum das ganze
Bild nicht erklärbar finden, weil einige Nebenfiguren,
Nebendinge, uns ohne die geheime Bedeutung nicht
verständlich sind? Liefert die Hauptgruppe nicht einen
Ausdruck von Empfindungen, der durch den bloßen
Anblick hinreichend motivirt, durch die Vergleichung
mit den gemeinsten Erfahrungen überflüßig gerecht-
fertigt wird? Hat der erzürnte Held, der sich aus
den Armen seiner Familie reißt, nur denn ein Anrecht
auf unsere Theilnehmung, wenn er der Gott des Krie-
ges, seine Gattin die Göttin der Liebe, und seine Kin-
der Amorinen sind? Ist es die Verknüpfung der
Ideen, die uns dieses Bild so schätzbar macht, oder
ist es die Situation, welche zum Ausdruck interessan-
ter Affecte die Veranlassung gibt?

Genung! Jede zusammengesetzte allegorische Vor-
stellung, die ein Gegenstand der schönen Kunst seyn
soll, liefere uns die Darstellung eines Vorfalls, einer

Bege-
N 2

Der Vaticaniſche Pallaſt.
wird durch die Goͤttin der Rache, die flammende
Blicke und brennende Fackel verkuͤndigen, gewaltſam
fortgeriſſen. Umſonſt wirft ſich Venus in Thraͤnen
in die Arme des Geliebten, umſonſt umſchlingen Amo-
rinen ſeine Knie; er zertritt mit ſeinen Fuͤßen halbzer-
riſſene Buͤcher, vor ſeinem Anblick ſtuͤrzen Kuͤnſte und
Wiſſenſchaften zu Boden. Verzweiflungsvoll ver-
birgt ein Weib ihr Kind in ihren Buſen, auf der
Schwelle des geoͤffneten Janustempels ſitzt die troſt-
loſe Erde, und im Hintergrunde laͤßt die Flamme
brennender Doͤrfer ein verheertes Land und Gruppen
von Kriegern ſehen.

Jedem iſt die Allegorie begreiflich; aber geſetzt,
ſie waͤre es nicht! Werden wir darum das ganze
Bild nicht erklaͤrbar finden, weil einige Nebenfiguren,
Nebendinge, uns ohne die geheime Bedeutung nicht
verſtaͤndlich ſind? Liefert die Hauptgruppe nicht einen
Ausdruck von Empfindungen, der durch den bloßen
Anblick hinreichend motivirt, durch die Vergleichung
mit den gemeinſten Erfahrungen uͤberfluͤßig gerecht-
fertigt wird? Hat der erzuͤrnte Held, der ſich aus
den Armen ſeiner Familie reißt, nur denn ein Anrecht
auf unſere Theilnehmung, wenn er der Gott des Krie-
ges, ſeine Gattin die Goͤttin der Liebe, und ſeine Kin-
der Amorinen ſind? Iſt es die Verknuͤpfung der
Ideen, die uns dieſes Bild ſo ſchaͤtzbar macht, oder
iſt es die Situation, welche zum Ausdruck intereſſan-
ter Affecte die Veranlaſſung gibt?

Genung! Jede zuſammengeſetzte allegoriſche Vor-
ſtellung, die ein Gegenſtand der ſchoͤnen Kunſt ſeyn
ſoll, liefere uns die Darſtellung eines Vorfalls, einer

Bege-
N 2
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[195/0217] Der Vaticaniſche Pallaſt. wird durch die Goͤttin der Rache, die flammende Blicke und brennende Fackel verkuͤndigen, gewaltſam fortgeriſſen. Umſonſt wirft ſich Venus in Thraͤnen in die Arme des Geliebten, umſonſt umſchlingen Amo- rinen ſeine Knie; er zertritt mit ſeinen Fuͤßen halbzer- riſſene Buͤcher, vor ſeinem Anblick ſtuͤrzen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften zu Boden. Verzweiflungsvoll ver- birgt ein Weib ihr Kind in ihren Buſen, auf der Schwelle des geoͤffneten Janustempels ſitzt die troſt- loſe Erde, und im Hintergrunde laͤßt die Flamme brennender Doͤrfer ein verheertes Land und Gruppen von Kriegern ſehen. Jedem iſt die Allegorie begreiflich; aber geſetzt, ſie waͤre es nicht! Werden wir darum das ganze Bild nicht erklaͤrbar finden, weil einige Nebenfiguren, Nebendinge, uns ohne die geheime Bedeutung nicht verſtaͤndlich ſind? Liefert die Hauptgruppe nicht einen Ausdruck von Empfindungen, der durch den bloßen Anblick hinreichend motivirt, durch die Vergleichung mit den gemeinſten Erfahrungen uͤberfluͤßig gerecht- fertigt wird? Hat der erzuͤrnte Held, der ſich aus den Armen ſeiner Familie reißt, nur denn ein Anrecht auf unſere Theilnehmung, wenn er der Gott des Krie- ges, ſeine Gattin die Goͤttin der Liebe, und ſeine Kin- der Amorinen ſind? Iſt es die Verknuͤpfung der Ideen, die uns dieſes Bild ſo ſchaͤtzbar macht, oder iſt es die Situation, welche zum Ausdruck intereſſan- ter Affecte die Veranlaſſung gibt? Genung! Jede zuſammengeſetzte allegoriſche Vor- ſtellung, die ein Gegenſtand der ſchoͤnen Kunſt ſeyn ſoll, liefere uns die Darſtellung eines Vorfalls, einer Bege- N 2

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/217>, abgerufen am 26.11.2024.