haben den vergötterten, den verklärten Hercules in diesem Bruchstücke gesehen. Diese edle Bestimmung scheint der Vortrefflichkeit der Arbeit würdig; und wer würde dann noch weiter zweifeln, daß sie die ur- sprüngliche gewesen sey?
Es ist bekannt, daß die Formen des menschlichen Körpers aus einer unzählichen Menge von Erhöhun- gen und Vertiefungen bestehen, die den Gliedmaaßen, den Muskeln, der Haut das Wellenförmige, das Ausgeschweifte, das in einander Fließende geben, von denen in der Bildhauerarbeit Leben und Wahrheit abzuhängen scheinen: Kein Werk des Meißels kömmt hierin unserm Bruchstück bei. Von keiner Muskel sieht man den Anfang oder das Ende, und dennoch zeichnet sich eine jede mit der äußersten Bestimmtheit dem Auge vor.
Der Rücken und die Schenkel haben mir die schönsten Theile geschienen. Wenn man die Probe machen will, bei zugeschlossenen Augen langsam mit der Hand über die angezeigten Theile herzufahren, wird man wahres Fleisch zu fühlen glauben. Mehr will ich über die Schönheit dieses Werks nicht hinzu- setzen. Man muß sehen, und schon viel gesehen haben, um den ganzen Werth dieses Rumpfes zu füh- len. Aber denjenigen, der ihn fühlt, muß ich dar- auf zurückführen, daß es nicht Wichtigkeit der Be- deutung, nicht Interesse des Ausdrucks ist, die seinen Blick an dieses Bruchstück ohne Kopf, ohne Arme, ohne Beine fesseln. Es ist das Wohlgefällige der Gestalt, die körperliche Schönheit, verbunden mit der Betrachtung der Geschicklichkeit des Künstlers, die uns diesen Rumpf für unser Vergnügen so werth ma-
chen.
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
haben den vergoͤtterten, den verklaͤrten Hercules in dieſem Bruchſtuͤcke geſehen. Dieſe edle Beſtimmung ſcheint der Vortrefflichkeit der Arbeit wuͤrdig; und wer wuͤrde dann noch weiter zweifeln, daß ſie die ur- ſpruͤngliche geweſen ſey?
Es iſt bekannt, daß die Formen des menſchlichen Koͤrpers aus einer unzaͤhlichen Menge von Erhoͤhun- gen und Vertiefungen beſtehen, die den Gliedmaaßen, den Muſkeln, der Haut das Wellenfoͤrmige, das Ausgeſchweifte, das in einander Fließende geben, von denen in der Bildhauerarbeit Leben und Wahrheit abzuhaͤngen ſcheinen: Kein Werk des Meißels koͤmmt hierin unſerm Bruchſtuͤck bei. Von keiner Muſkel ſieht man den Anfang oder das Ende, und dennoch zeichnet ſich eine jede mit der aͤußerſten Beſtimmtheit dem Auge vor.
Der Ruͤcken und die Schenkel haben mir die ſchoͤnſten Theile geſchienen. Wenn man die Probe machen will, bei zugeſchloſſenen Augen langſam mit der Hand uͤber die angezeigten Theile herzufahren, wird man wahres Fleiſch zu fuͤhlen glauben. Mehr will ich uͤber die Schoͤnheit dieſes Werks nicht hinzu- ſetzen. Man muß ſehen, und ſchon viel geſehen haben, um den ganzen Werth dieſes Rumpfes zu fuͤh- len. Aber denjenigen, der ihn fuͤhlt, muß ich dar- auf zuruͤckfuͤhren, daß es nicht Wichtigkeit der Be- deutung, nicht Intereſſe des Ausdrucks iſt, die ſeinen Blick an dieſes Bruchſtuͤck ohne Kopf, ohne Arme, ohne Beine feſſeln. Es iſt das Wohlgefaͤllige der Geſtalt, die koͤrperliche Schoͤnheit, verbunden mit der Betrachtung der Geſchicklichkeit des Kuͤnſtlers, die uns dieſen Rumpf fuͤr unſer Vergnuͤgen ſo werth ma-
chen.
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
haben den vergoͤtterten, den verklaͤrten Hercules in
dieſem Bruchſtuͤcke geſehen. Dieſe edle Beſtimmung
ſcheint der Vortrefflichkeit der Arbeit wuͤrdig; und
wer wuͤrde dann noch weiter zweifeln, daß ſie die ur-
ſpruͤngliche geweſen ſey?
Es iſt bekannt, daß die Formen des menſchlichen
Koͤrpers aus einer unzaͤhlichen Menge von Erhoͤhun-
gen und Vertiefungen beſtehen, die den Gliedmaaßen,
den Muſkeln, der Haut das Wellenfoͤrmige, das
Ausgeſchweifte, das in einander Fließende geben,
von denen in der Bildhauerarbeit Leben und Wahrheit
abzuhaͤngen ſcheinen: Kein Werk des Meißels koͤmmt
hierin unſerm Bruchſtuͤck bei. Von keiner Muſkel
ſieht man den Anfang oder das Ende, und dennoch
zeichnet ſich eine jede mit der aͤußerſten Beſtimmtheit
dem Auge vor.
Der Ruͤcken und die Schenkel haben mir die
ſchoͤnſten Theile geſchienen. Wenn man die Probe
machen will, bei zugeſchloſſenen Augen langſam mit
der Hand uͤber die angezeigten Theile herzufahren,
wird man wahres Fleiſch zu fuͤhlen glauben. Mehr
will ich uͤber die Schoͤnheit dieſes Werks nicht hinzu-
ſetzen. Man muß ſehen, und ſchon viel geſehen
haben, um den ganzen Werth dieſes Rumpfes zu fuͤh-
len. Aber denjenigen, der ihn fuͤhlt, muß ich dar-
auf zuruͤckfuͤhren, daß es nicht Wichtigkeit der Be-
deutung, nicht Intereſſe des Ausdrucks iſt, die ſeinen
Blick an dieſes Bruchſtuͤck ohne Kopf, ohne Arme,
ohne Beine feſſeln. Es iſt das Wohlgefaͤllige der
Geſtalt, die koͤrperliche Schoͤnheit, verbunden mit
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/91>, abgerufen am 26.07.2024.
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