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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

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Villa Albani.
dem Werke zeige, das nicht sowohl in demselben, als
in uns liegt, scheinen die getreuesten Schiedsrichte-
rinnen über das Verdienst eines Kunstwerks, als
schönes Kunstwerk, zu seyn.

Das Gefühl des Schönen verlangt durchaus eine
ruhige Gemüthsverfassung, die kein Vergnügen
sucht, als welches der gegenwärtige Genuß darbietet:
ohne Ueberzählung desjenigen, was wir dadurch für
das Künftige gewinnen, ohne Nahrung für Affekte,
die das Herz oder der Verstand -- denn auch dieser
hat die seinigen -- schon vorhero hatten. Gebrau-
chen wir nicht die Vorsicht, diese fremden Rücksich-
ten auf frühere Begriffe und Neigungen, auf Absich-
ten und Wünsche, von dem Vergnügen, das die
Künste gewähren, zu trennen; so laufen wir Ge-
fahr, dieses bei einem wiederholten Anblick nicht wie-
der zu finden, und auf einen Genuß zu rechnen,
den viele andere Gegenstände viel vollständiger und
viel dauerhafter zu gewähren im Stande sind.

Eine Porcia, die nach dem Tode ihres Gemahls
bei dem Anblick eines Gemähldes der Andromache
dem gepreßten Herzen zuerst durch Klagen Luft
macht; ein Cäsar, der vor der Bildsäule Alexan-
ders ehrgeizige Thränen vergießt, dürfen bei verän-
derter Lage auf einen ähnlichen Eindruck, den auch
sehr mittelmäßige Stücke auf sie gemacht haben wür-
den, nicht ferner rechnen.

Der Künstler, dem sich bei der Beurtheilung
eines Kunstwerks zu gleicher Zeit alle die Schwierig-
keiten darstellen, die der widerstrebende Stoff, oder
das Mangelhafte der Werkzeuge dem Urheber dessel-

ben

Villa Albani.
dem Werke zeige, das nicht ſowohl in demſelben, als
in uns liegt, ſcheinen die getreueſten Schiedsrichte-
rinnen uͤber das Verdienſt eines Kunſtwerks, als
ſchoͤnes Kunſtwerk, zu ſeyn.

Das Gefuͤhl des Schoͤnen verlangt durchaus eine
ruhige Gemuͤthsverfaſſung, die kein Vergnuͤgen
ſucht, als welches der gegenwaͤrtige Genuß darbietet:
ohne Ueberzaͤhlung desjenigen, was wir dadurch fuͤr
das Kuͤnftige gewinnen, ohne Nahrung fuͤr Affekte,
die das Herz oder der Verſtand — denn auch dieſer
hat die ſeinigen — ſchon vorhero hatten. Gebrau-
chen wir nicht die Vorſicht, dieſe fremden Ruͤckſich-
ten auf fruͤhere Begriffe und Neigungen, auf Abſich-
ten und Wuͤnſche, von dem Vergnuͤgen, das die
Kuͤnſte gewaͤhren, zu trennen; ſo laufen wir Ge-
fahr, dieſes bei einem wiederholten Anblick nicht wie-
der zu finden, und auf einen Genuß zu rechnen,
den viele andere Gegenſtaͤnde viel vollſtaͤndiger und
viel dauerhafter zu gewaͤhren im Stande ſind.

Eine Porcia, die nach dem Tode ihres Gemahls
bei dem Anblick eines Gemaͤhldes der Andromache
dem gepreßten Herzen zuerſt durch Klagen Luft
macht; ein Caͤſar, der vor der Bildſaͤule Alexan-
ders ehrgeizige Thraͤnen vergießt, duͤrfen bei veraͤn-
derter Lage auf einen aͤhnlichen Eindruck, den auch
ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke auf ſie gemacht haben wuͤr-
den, nicht ferner rechnen.

Der Kuͤnſtler, dem ſich bei der Beurtheilung
eines Kunſtwerks zu gleicher Zeit alle die Schwierig-
keiten darſtellen, die der widerſtrebende Stoff, oder
das Mangelhafte der Werkzeuge dem Urheber deſſel-

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[4/0018] Villa Albani. dem Werke zeige, das nicht ſowohl in demſelben, als in uns liegt, ſcheinen die getreueſten Schiedsrichte- rinnen uͤber das Verdienſt eines Kunſtwerks, als ſchoͤnes Kunſtwerk, zu ſeyn. Das Gefuͤhl des Schoͤnen verlangt durchaus eine ruhige Gemuͤthsverfaſſung, die kein Vergnuͤgen ſucht, als welches der gegenwaͤrtige Genuß darbietet: ohne Ueberzaͤhlung desjenigen, was wir dadurch fuͤr das Kuͤnftige gewinnen, ohne Nahrung fuͤr Affekte, die das Herz oder der Verſtand — denn auch dieſer hat die ſeinigen — ſchon vorhero hatten. Gebrau- chen wir nicht die Vorſicht, dieſe fremden Ruͤckſich- ten auf fruͤhere Begriffe und Neigungen, auf Abſich- ten und Wuͤnſche, von dem Vergnuͤgen, das die Kuͤnſte gewaͤhren, zu trennen; ſo laufen wir Ge- fahr, dieſes bei einem wiederholten Anblick nicht wie- der zu finden, und auf einen Genuß zu rechnen, den viele andere Gegenſtaͤnde viel vollſtaͤndiger und viel dauerhafter zu gewaͤhren im Stande ſind. Eine Porcia, die nach dem Tode ihres Gemahls bei dem Anblick eines Gemaͤhldes der Andromache dem gepreßten Herzen zuerſt durch Klagen Luft macht; ein Caͤſar, der vor der Bildſaͤule Alexan- ders ehrgeizige Thraͤnen vergießt, duͤrfen bei veraͤn- derter Lage auf einen aͤhnlichen Eindruck, den auch ſehr mittelmaͤßige Stuͤcke auf ſie gemacht haben wuͤr- den, nicht ferner rechnen. Der Kuͤnſtler, dem ſich bei der Beurtheilung eines Kunſtwerks zu gleicher Zeit alle die Schwierig- keiten darſtellen, die der widerſtrebende Stoff, oder das Mangelhafte der Werkzeuge dem Urheber deſſel- ben

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/18>, abgerufen am 30.04.2024.