Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

Pallast Boccapaduli.
Aufmerksamkeit auf die Vorfälle im menschlichen Le-
ben bedarf, von denen jeder Mensch, entweder durch
eigene Erfahrung oder durch die für eigene Erfahrung
geltende Erzählung der Augenzeugen, während der
Zeit in der er über diesen Erdboden hinwandelt, eine
Vorstellung erhält: Vorwürfe, die in der Natur zu
allen Zeiten wieder kommen, weil sie ihren Grund
in der unveränderlichen Würkungskraft der Leiden-
schaften, oder der Natur haben: mithin Vorwürfe,
die aus allen Zeiten, von allen Orten her entlehnt,
jeder Menschenart beigelegt werden können.

Ob es Venus, Cleopatra, oder das Mädchen
meiner Vaterstadt ist, deren Lilienarm den bräunli-
chen Nacken eines Mars, eines Cäsars, oder eines
modernen Kriegers umschlingt, was kümmert mich
das? Genung zu meinem Vergnügen, genung zu
meiner Verständigung, daß der Vorfall mir aus der
alltäglichen Erfahrung bekannt ist, daß im Spiel
der Minen und in Stellung der Ausdruck natürli-
cher, der ganzen Menschheit und jedem Geschlecht
insbesondere gemeinen Empfindungen liegt. Das
Auge eines jeden, sage ich mit einem erborgten Aus-
druck: Das Auge eines jeden macht hier die Exposi-
tion, das Herz die Erzählung.

Wenn wir den Hauptgrund der ästhetischen
Würkung einer Darstellung untersuchen, deren Vor-
wurf aus der Geschichte oder aus der Fabel ent-
lehnt ist, so werden wir finden, daß ohne jenen
Ausdruck allgemein bekannter Empfindungen, sogar
die Bezeichnung eines bestimmten Falls weder ver-
ständlich, noch sehr interessant ist. Die Situation

die

Pallaſt Boccapaduli.
Aufmerkſamkeit auf die Vorfaͤlle im menſchlichen Le-
ben bedarf, von denen jeder Menſch, entweder durch
eigene Erfahrung oder durch die fuͤr eigene Erfahrung
geltende Erzaͤhlung der Augenzeugen, waͤhrend der
Zeit in der er uͤber dieſen Erdboden hinwandelt, eine
Vorſtellung erhaͤlt: Vorwuͤrfe, die in der Natur zu
allen Zeiten wieder kommen, weil ſie ihren Grund
in der unveraͤnderlichen Wuͤrkungskraft der Leiden-
ſchaften, oder der Natur haben: mithin Vorwuͤrfe,
die aus allen Zeiten, von allen Orten her entlehnt,
jeder Menſchenart beigelegt werden koͤnnen.

Ob es Venus, Cleopatra, oder das Maͤdchen
meiner Vaterſtadt iſt, deren Lilienarm den braͤunli-
chen Nacken eines Mars, eines Caͤſars, oder eines
modernen Kriegers umſchlingt, was kuͤmmert mich
das? Genung zu meinem Vergnuͤgen, genung zu
meiner Verſtaͤndigung, daß der Vorfall mir aus der
alltaͤglichen Erfahrung bekannt iſt, daß im Spiel
der Minen und in Stellung der Ausdruck natuͤrli-
cher, der ganzen Menſchheit und jedem Geſchlecht
insbeſondere gemeinen Empfindungen liegt. Das
Auge eines jeden, ſage ich mit einem erborgten Aus-
druck: Das Auge eines jeden macht hier die Expoſi-
tion, das Herz die Erzaͤhlung.

Wenn wir den Hauptgrund der aͤſthetiſchen
Wuͤrkung einer Darſtellung unterſuchen, deren Vor-
wurf aus der Geſchichte oder aus der Fabel ent-
lehnt iſt, ſo werden wir finden, daß ohne jenen
Ausdruck allgemein bekannter Empfindungen, ſogar
die Bezeichnung eines beſtimmten Falls weder ver-
ſtaͤndlich, noch ſehr intereſſant iſt. Die Situation

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0237" n="223"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Palla&#x017F;t Boccapaduli.</hi></fw><lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit auf die Vorfa&#x0364;lle im men&#x017F;chlichen Le-<lb/>
ben bedarf, von denen jeder Men&#x017F;ch, entweder durch<lb/>
eigene Erfahrung oder durch die fu&#x0364;r eigene Erfahrung<lb/>
geltende Erza&#x0364;hlung der Augenzeugen, wa&#x0364;hrend der<lb/>
Zeit in der er u&#x0364;ber die&#x017F;en Erdboden hinwandelt, eine<lb/>
Vor&#x017F;tellung erha&#x0364;lt: Vorwu&#x0364;rfe, die in der Natur zu<lb/>
allen Zeiten wieder kommen, weil &#x017F;ie ihren Grund<lb/>
in der unvera&#x0364;nderlichen Wu&#x0364;rkungskraft der Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften, oder der Natur haben: mithin Vorwu&#x0364;rfe,<lb/>
die aus allen Zeiten, von allen Orten her entlehnt,<lb/>
jeder Men&#x017F;chenart beigelegt werden ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Ob es Venus, Cleopatra, oder das Ma&#x0364;dchen<lb/>
meiner Vater&#x017F;tadt i&#x017F;t, deren Lilienarm den bra&#x0364;unli-<lb/>
chen Nacken eines Mars, eines Ca&#x0364;&#x017F;ars, oder eines<lb/>
modernen Kriegers um&#x017F;chlingt, was ku&#x0364;mmert mich<lb/>
das? Genung zu meinem Vergnu&#x0364;gen, genung zu<lb/>
meiner Ver&#x017F;ta&#x0364;ndigung, daß der Vorfall mir aus der<lb/>
allta&#x0364;glichen Erfahrung bekannt i&#x017F;t, daß im Spiel<lb/>
der Minen und in Stellung der Ausdruck natu&#x0364;rli-<lb/>
cher, der ganzen Men&#x017F;chheit und jedem Ge&#x017F;chlecht<lb/>
insbe&#x017F;ondere gemeinen Empfindungen liegt. Das<lb/>
Auge eines jeden, &#x017F;age ich mit einem erborgten Aus-<lb/>
druck: Das Auge eines jeden macht hier die Expo&#x017F;i-<lb/>
tion, das Herz die Erza&#x0364;hlung.</p><lb/>
        <p>Wenn wir den Hauptgrund der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen<lb/>
Wu&#x0364;rkung einer Dar&#x017F;tellung unter&#x017F;uchen, deren Vor-<lb/>
wurf aus der Ge&#x017F;chichte oder aus der Fabel ent-<lb/>
lehnt i&#x017F;t, &#x017F;o werden wir finden, daß ohne jenen<lb/>
Ausdruck allgemein bekannter Empfindungen, &#x017F;ogar<lb/>
die Bezeichnung eines be&#x017F;timmten Falls weder ver-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndlich, noch &#x017F;ehr intere&#x017F;&#x017F;ant i&#x017F;t. Die Situation<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0237] Pallaſt Boccapaduli. Aufmerkſamkeit auf die Vorfaͤlle im menſchlichen Le- ben bedarf, von denen jeder Menſch, entweder durch eigene Erfahrung oder durch die fuͤr eigene Erfahrung geltende Erzaͤhlung der Augenzeugen, waͤhrend der Zeit in der er uͤber dieſen Erdboden hinwandelt, eine Vorſtellung erhaͤlt: Vorwuͤrfe, die in der Natur zu allen Zeiten wieder kommen, weil ſie ihren Grund in der unveraͤnderlichen Wuͤrkungskraft der Leiden- ſchaften, oder der Natur haben: mithin Vorwuͤrfe, die aus allen Zeiten, von allen Orten her entlehnt, jeder Menſchenart beigelegt werden koͤnnen. Ob es Venus, Cleopatra, oder das Maͤdchen meiner Vaterſtadt iſt, deren Lilienarm den braͤunli- chen Nacken eines Mars, eines Caͤſars, oder eines modernen Kriegers umſchlingt, was kuͤmmert mich das? Genung zu meinem Vergnuͤgen, genung zu meiner Verſtaͤndigung, daß der Vorfall mir aus der alltaͤglichen Erfahrung bekannt iſt, daß im Spiel der Minen und in Stellung der Ausdruck natuͤrli- cher, der ganzen Menſchheit und jedem Geſchlecht insbeſondere gemeinen Empfindungen liegt. Das Auge eines jeden, ſage ich mit einem erborgten Aus- druck: Das Auge eines jeden macht hier die Expoſi- tion, das Herz die Erzaͤhlung. Wenn wir den Hauptgrund der aͤſthetiſchen Wuͤrkung einer Darſtellung unterſuchen, deren Vor- wurf aus der Geſchichte oder aus der Fabel ent- lehnt iſt, ſo werden wir finden, daß ohne jenen Ausdruck allgemein bekannter Empfindungen, ſogar die Bezeichnung eines beſtimmten Falls weder ver- ſtaͤndlich, noch ſehr intereſſant iſt. Die Situation die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/237
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/237>, abgerufen am 02.09.2024.