Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
Pallast Boccapaduli.

Auch das Schickliche ist mit dem Ueblichen nicht
einerlei. Das Schickliche ist das Ideal der dichte-
rischen Wahrscheinlichkeit: es ist die Auswahl unter
demjenigen, was nach dem Gange der Affekten sich
an den theilnehmenden Personen bei einer Begeben-
heit äußern kann. Es ist weder mechanisch noch
dichterisch unwahrscheinlich, daß ein Aussätziger sich
krazt, während daß Christus seinen Mitkranken hei-
let: es ist auch nicht wider das Uebliche. Allein es
paßt, es schickt sich nicht in den Eindruck, den die
Darstellung einer heiligen Handlung auf mich machen
soll, es ist wider meine Begriffe von Anstand, wider
sittliche Wahrscheinlichkeit, mit einem Worte: wider
das Schickliche.

Daß diese Betrachtungen den Liebhaber billig
machen möchten gegen Meisterstücke älterer Meister,
die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die
wenn sie unsre Forderungen in Ansehung des Zufälli-
gen der Wahrheit oft unbefriedigt lassen, denjenigen,
die wir an die nothwendigen Bestandtheile derselben
zu machen berechtiget sind, ein desto größeres Ge-
nüge leisten.

Ich will damit aber keinesweges den jungenDie Gründe
zur Nachsicht
für die älte-
ren Künstler
können den
gegenwärti-
gen nicht zu
Gute kom-
men.

Künstler zu einer Nachlässigkeit in diesem Stücke auf-
fordern. Nein! er erhöhe mein Vergnügen, indem
er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als
ich sehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz
auf diesen Nebenvorzug, keine übertriebene Sorge
für die Andeutung der historischen Wahrheit.

Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen
wenigstens einen gewissen Aufwand von Seelenkräf-

ten,
P 4
Pallaſt Boccapaduli.

Auch das Schickliche iſt mit dem Ueblichen nicht
einerlei. Das Schickliche iſt das Ideal der dichte-
riſchen Wahrſcheinlichkeit: es iſt die Auswahl unter
demjenigen, was nach dem Gange der Affekten ſich
an den theilnehmenden Perſonen bei einer Begeben-
heit aͤußern kann. Es iſt weder mechaniſch noch
dichteriſch unwahrſcheinlich, daß ein Auſſaͤtziger ſich
krazt, waͤhrend daß Chriſtus ſeinen Mitkranken hei-
let: es iſt auch nicht wider das Uebliche. Allein es
paßt, es ſchickt ſich nicht in den Eindruck, den die
Darſtellung einer heiligen Handlung auf mich machen
ſoll, es iſt wider meine Begriffe von Anſtand, wider
ſittliche Wahrſcheinlichkeit, mit einem Worte: wider
das Schickliche.

Daß dieſe Betrachtungen den Liebhaber billig
machen moͤchten gegen Meiſterſtuͤcke aͤlterer Meiſter,
die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die
wenn ſie unſre Forderungen in Anſehung des Zufaͤlli-
gen der Wahrheit oft unbefriedigt laſſen, denjenigen,
die wir an die nothwendigen Beſtandtheile derſelben
zu machen berechtiget ſind, ein deſto groͤßeres Ge-
nuͤge leiſten.

Ich will damit aber keinesweges den jungenDie Gruͤnde
zur Nachſicht
fuͤr die aͤlte-
ren Kuͤnſtler
koͤnnen den
gegenwaͤrti-
gen nicht zu
Gute kom-
men.

Kuͤnſtler zu einer Nachlaͤſſigkeit in dieſem Stuͤcke auf-
fordern. Nein! er erhoͤhe mein Vergnuͤgen, indem
er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als
ich ſehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz
auf dieſen Nebenvorzug, keine uͤbertriebene Sorge
fuͤr die Andeutung der hiſtoriſchen Wahrheit.

Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen
wenigſtens einen gewiſſen Aufwand von Seelenkraͤf-

ten,
P 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0245" n="231"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Palla&#x017F;t Boccapaduli.</hi> </fw><lb/>
        <p>Auch das Schickliche i&#x017F;t mit dem Ueblichen nicht<lb/>
einerlei. Das Schickliche i&#x017F;t das Ideal der dichte-<lb/>
ri&#x017F;chen Wahr&#x017F;cheinlichkeit: es i&#x017F;t die Auswahl unter<lb/>
demjenigen, was nach dem Gange der Affekten &#x017F;ich<lb/>
an den theilnehmenden Per&#x017F;onen bei einer Begeben-<lb/>
heit a&#x0364;ußern kann. Es i&#x017F;t weder mechani&#x017F;ch noch<lb/>
dichteri&#x017F;ch unwahr&#x017F;cheinlich, daß ein Au&#x017F;&#x017F;a&#x0364;tziger &#x017F;ich<lb/>
krazt, wa&#x0364;hrend daß Chri&#x017F;tus &#x017F;einen Mitkranken hei-<lb/>
let: es i&#x017F;t auch nicht wider das Uebliche. Allein es<lb/>
paßt, es &#x017F;chickt &#x017F;ich nicht in den Eindruck, den die<lb/>
Dar&#x017F;tellung einer heiligen Handlung auf mich machen<lb/>
&#x017F;oll, es i&#x017F;t wider meine Begriffe von An&#x017F;tand, wider<lb/>
&#x017F;ittliche Wahr&#x017F;cheinlichkeit, mit einem Worte: wider<lb/>
das Schickliche.</p><lb/>
        <p>Daß die&#x017F;e Betrachtungen den Liebhaber billig<lb/>
machen mo&#x0364;chten gegen Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;cke a&#x0364;lterer Mei&#x017F;ter,<lb/>
die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die<lb/>
wenn &#x017F;ie un&#x017F;re Forderungen in An&#x017F;ehung des Zufa&#x0364;lli-<lb/>
gen der Wahrheit oft unbefriedigt la&#x017F;&#x017F;en, denjenigen,<lb/>
die wir an die nothwendigen Be&#x017F;tandtheile der&#x017F;elben<lb/>
zu machen berechtiget &#x017F;ind, ein de&#x017F;to gro&#x0364;ßeres Ge-<lb/>
nu&#x0364;ge lei&#x017F;ten.</p><lb/>
        <p>Ich will damit aber keinesweges den jungen<note place="right">Die Gru&#x0364;nde<lb/>
zur Nach&#x017F;icht<lb/>
fu&#x0364;r die a&#x0364;lte-<lb/>
ren Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
ko&#x0364;nnen den<lb/>
gegenwa&#x0364;rti-<lb/>
gen nicht zu<lb/>
Gute kom-<lb/>
men.</note><lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler zu einer Nachla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeit in die&#x017F;em Stu&#x0364;cke auf-<lb/>
fordern. Nein! er erho&#x0364;he mein Vergnu&#x0364;gen, indem<lb/>
er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als<lb/>
ich &#x017F;ehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz<lb/>
auf die&#x017F;en Nebenvorzug, keine u&#x0364;bertriebene Sorge<lb/>
fu&#x0364;r die Andeutung der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Wahrheit.</p><lb/>
        <p>Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen<lb/>
wenig&#x017F;tens einen gewi&#x017F;&#x017F;en Aufwand von Seelenkra&#x0364;f-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ten,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0245] Pallaſt Boccapaduli. Auch das Schickliche iſt mit dem Ueblichen nicht einerlei. Das Schickliche iſt das Ideal der dichte- riſchen Wahrſcheinlichkeit: es iſt die Auswahl unter demjenigen, was nach dem Gange der Affekten ſich an den theilnehmenden Perſonen bei einer Begeben- heit aͤußern kann. Es iſt weder mechaniſch noch dichteriſch unwahrſcheinlich, daß ein Auſſaͤtziger ſich krazt, waͤhrend daß Chriſtus ſeinen Mitkranken hei- let: es iſt auch nicht wider das Uebliche. Allein es paßt, es ſchickt ſich nicht in den Eindruck, den die Darſtellung einer heiligen Handlung auf mich machen ſoll, es iſt wider meine Begriffe von Anſtand, wider ſittliche Wahrſcheinlichkeit, mit einem Worte: wider das Schickliche. Daß dieſe Betrachtungen den Liebhaber billig machen moͤchten gegen Meiſterſtuͤcke aͤlterer Meiſter, die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die wenn ſie unſre Forderungen in Anſehung des Zufaͤlli- gen der Wahrheit oft unbefriedigt laſſen, denjenigen, die wir an die nothwendigen Beſtandtheile derſelben zu machen berechtiget ſind, ein deſto groͤßeres Ge- nuͤge leiſten. Ich will damit aber keinesweges den jungen Kuͤnſtler zu einer Nachlaͤſſigkeit in dieſem Stuͤcke auf- fordern. Nein! er erhoͤhe mein Vergnuͤgen, indem er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als ich ſehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz auf dieſen Nebenvorzug, keine uͤbertriebene Sorge fuͤr die Andeutung der hiſtoriſchen Wahrheit. Die Gruͤnde zur Nachſicht fuͤr die aͤlte- ren Kuͤnſtler koͤnnen den gegenwaͤrti- gen nicht zu Gute kom- men. Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen wenigſtens einen gewiſſen Aufwand von Seelenkraͤf- ten, P 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/245
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/245>, abgerufen am 23.11.2024.